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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1997/0021
Tirol in Schwaben

mehr als die Hälfte der Pfarreibewohner Hunger und Seuche zum Opfer gefallen. Am schrecklichsten
wütete derTod dabei in den beiden Monaten Oktober und November des Jahres 1635,
als an manchen Tagen mehr Todesfälle zu beklagen sind als zuvor während eines ganzen Jahres.
In den allermeisten Familien werden in nur wenigen Wochen oder gar Tagen gleich mehrere
Mitglieder dahingerafft, in den Jahren danach werden in den überlieferten Quellen Witwen,
Witwer und hinterlassene Waisen zuhauf erwähnt. Für das Jahr 1636 ist im Binger Kirchenbuch
mit 18 Eheschließungen eine Rekordzahl von Heiraten vermerkt, die schlicht aus dem Umstand
resultiert, daß sich die Uberlebenden der Seuche zur gemeinsamen Bewältigung des noch immer
schwierigen Alltags rasch zu neuen Familien zusammenschließen.

Offenbar bereits seit 1634 fliehen zahlreiche Bewohner aus den beiden Pfarreien vor diesen
existentiellen Heimsuchungen in die Fremde. Von den Überlebenden der Pest seien, so hält
Pfarrer Fischer im Binger Kirchenbuch in einem lateinischen Eintrag eigens fest, nicht wenige
in Kriegsdienste getreten oder fame urgente ad alienas terras migrarunt, also vom Hunger
genötigt in fremde Länder ausgewandert12. In der Tat finden sich in den Quellen zahlreiche
Hinweise auf Soldaten aus den Städten und Dörfern des Oberen Donau-Raums, wobei neben
der kaiserlichen Armee auch Kriegsdienste in den Heeren Schwedens und Frankreichs anzutreffen
sind. Nicht wenige dieser Soldaten finden auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen
Krieges den Tod, so etwa Jacob Kiene aus Bingen, der 1645 in der Schlacht von Jankau südöstlich
von Prag fällt und dessen aus Österreich stammende Witwe im Jahr darauf in Bingen Ansprüche
auf sein Erbe anmeldet13. In noch weitaus größerer Zahl fliehen Ortsbewohner vor
Krieg, Hunger und Seuche in vermeintlich sichere Nachbarregionen, vor allem in die Schweiz,
nach Österreich und Bayern. Ein Großteil dieser Kriegsflüchtlinge kehrt noch während beziehungsweise
nach dem Ende des Krieges wieder in die frühere Heimat zurück, nicht wenige
bleiben indessen auf Dauer in der Fremde. Der aus Krauchenwies stammende Balthasar Heberle
beispielsweise will Ende 1645 mit Frau und drei Kindern in seinen Heimatort zurückkehren
und gibt an, vor 18 Jahren aus Krauchenwies, allwo Er sich nit mehr ernehren könn-
den, nach Österreich weggezogen zu sein und sich dort seither in Böhmisch-Watthofen aufgehalten
zu haben14. Manche der Flüchtlinge führen in der Zeit ihrer Emigration offenbar ein
recht unstetes Leben; Adam Hornnstain etwa, der gleichfalls aus Krauchenwies kommt und
1646 dorthin wieder zurück will, hat die sechs vorhergehenden Jahre mit seiner Frau in der
Schweiz, in Ravensburg und in Überlingen zugebracht15.

Lange Zeit kontrovers diskutiert wurden in der Forschung die demographischen und sozialen
Folgen des Dreißigjährigen Krieges. Fest steht mittlerweile, daß die verschiedenen Gebiete
des Deutschen Reiches von den Kriegsereignissen und Kriegsfolgen höchst ungleichmäßig
betroffen waren und das überlieferte Bild von der ganz Mitteleuropa vernichtenden
und entvölkernden Kriegskatastrophe nicht stimmt. Weite Gebiete in Norddeutschland, vor
allem aber die österreichischen und schweizerischen Alpenländer blieben vom Krieg nahezu
unberührt und litten nach dem Kriegsende unter einer regelrechten Übervölkerung. Dem stehen
Hauptzerstörungsgebiete wie Hessen, Franken, Bayern, Württemberg, das Oberrheingebiet
, die Pfalz oder das Elsaß gegenüber, wo wie in Württemberg der durchschnittliche Bevölkerungsrückgang
mehr als 50 Prozent beträgt und teilweise erst im 18. Jahrhundert der Einwohnerstand
der Vorkriegszeit wieder erreicht wird.16. Mittlerweile geht man davon aus, daß

12 Binger Kirchenbuch 1636-1700 (wie Anm. 6), Sterbebuch, »Nota«-Eintrag von Anfang 1636.

13 Binger Gerichtsprotokoll v. 8. 5. 1646 (Protokollband 1639-1652, Gemeindearchiv Bingen I Nr. 186),
außerdem Binger Kirchenbuch 1636-1700 (wie Anm. 6), Totenbuch, Eintrag v. 1646.

14 Amtsprotokolle der Grafschaft Sigmaringen 1643-1646 (StAS Ho 80 Bd. 2 Paket 224), Eintrag v.
21.11.1645, fol. 19rf.

15 Ebd., Eintrag v. 6. 2.1646, fol. 63v.

16 Vgl. hierzu Franz (wie Anm. 2), S. 7,15f., 19, 52; von Hippel (wie Anm. 2), S. 437. Von Hippel nennt
auf der Grundlage einer Steuerrenovation von 1655 für 64 erfaßte württembergische Ämter einen durch-

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