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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1997/0061
»Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling«

gen, daß das menschliche Territorialverhalten maßgeblich politische Konflikte beeinflußt.
Hans Magnus Enzensberger hat diese institutionalisierte und rationalisierte Form von Verhaltensweisen
beschrieben, indem er den Menschen als »seßhaften Nomaden« charakterisiert:

Zwei Passagiere in einem Eisenbahnabteil. Wir wissen nichts über ihre Vorgeschichte, ihre
Herkunft oder ihr Ziel. Sie haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen, Kleiderhaken,
Gepäcksablagen in Beschlag genommen. Auf den freien Sitzen liegen Zeitungen, Mäntel,
Handtaschen herum. Die Tür öffnet sich, und zwei neue Reisende treten ein. Ihre Ankunft
wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar, zusammenrücken, die
freien Plätze zu räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen
Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Sie
treten, den neu Hinzukommenden gegenüber, als Gruppe auf. Es ist ihr Territorium, das zur
Disposition steht. Jeden, der neu zusteigt, betrachten sie als Eindringling. Ihr Selbstverständnis
ist das von Eingeborenen, die den ganzen Raum für sich in Anspruch nehmen. Diese Auffassung
läßt sich rational nicht begründen. Um so tiefer scheint sie verwurzelt zu sein.

Dennoch kommt es so gut wie nie zu offenen Auseinandersetzungen ... Also werden nur
Blicke getauscht und Entschuldigungsformeln zwischen den Zähnen gemurmelt. Die neuen
Fahrgäste werden geduldet. Man gewöhnt sich an sie. Doch bleiben sie, wenn auch in abnehmendem
Grade stigmatisiert... Nun öffnen zwei weitere Passagiere die Tür des Abteils. Von
diesem Augenblick an verändert sich der Status der zuvor Eingetretenen. Eben noch waren sie
Eindringlinge, Außenseiter; jetzt haben sie sich mit einem Mal in Eingeborene verwandelt. Sie
gehören zum Clan der Seßhaften, der Abteilbesitzer, und nehmen alle Privilegien für sich in
Anspruch, von denen jene glauben, daß sie ihnen zustünden. Paradox wirkt dabei die Verteidigung
eines 'angestammtem Territoriums, das soeben erst besetzt wurde; bemerkenswert das
Fehlen der Empathie mit den Neuankömmlingen, die mit denselben Widerständen zu kämpfen
, dieselbe schwierige Initiation vor sich haben, der sich ihre Vorgänger unterziehen mußten;
eigentümlich die rasche Vergeßlichkeit, mit der das eigene Herkommen verdeckt und verleugnet
wird*.«

Enzensbergers These, »Fremde sind um so fremder, je ärmer sie sind«, gewinnt in Zeiten
des Neoliberalismus und der derzeitigen ökonomischen Krise neue Bedeutung, wie das anonyme
Flugblatt am Schluß meiner Ausführungen in aller Schärfe zeigen wird: »Je höher die
Qualifikation der Einwanderer, desto weniger Vorbehalte begegnen ihnen. Der indische
Astrophysiker, der chinesische Stararchitekt, der schwarzafrikanische Nobelpreisträger - sie
sind überall auf der Welt willkommen. Von den Reichen ist in diesem Zusammenhang ohnehin
nie die Rede; niemand stellt ihre Freizügigkeit in Frage ...« 9

Es ist unbestreitbar, daß das Fremde Angst macht. Der schwarzhäutige Nachbar, die
fremdartigen Gerüche und Geräusche aus der Wohnung der türkischen Anrainerfamilie, augenfällige
biologische Unterschiede - all das verunsichert, macht mißtrauisch, verursacht
Angst. Zugleich fasziniert das Unbekannte, reizt das Verbot, mit dem Fremden in Kontakt zu
treten, macht die beobachtbare »Leichtigkeit des Seins« neugierig10. In dieser Ambivalenz
zwischen rassistischer und nationalistischer Ausprägung von Fremdenangst und der universellen
Geltung von Gastfreundschaft hat sich transnationale Solidarität zurechtzufinden und
einzurichten.

Bleibt zu fragen, warum diese Angst derzeit umschlägt in radikale Formen der Fremdenfeindlichkeit
. So sind einmal die globalen Bewegungen und rapiden Veränderungen in unseren
Gesellschaften Grund für tiefgreifende Verunsicherungen. Werte- und damit einhergehender
Kulturwandel, ökonomische Rezession mit Gefährdung und Verlust des Arbeitsplatzes, Ka-

8 Hans Magnus Enzensberger: Die große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen. 1992, S. 11-13.

9 Ebd. S. 37.

10 Eue Wiesel: Die Angst vor dem Fremden. In: World Media Nr. 2. Die neue Völkerwanderung. Sonderausgabe
der »tageszeitung« vom 8.6.1991, S. 91.

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