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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1997/0065
»Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling«

5. EIN MENSCH »IM ELEND«

Wer aus Zwang oder Not die angestammte Heimat verläßt und vieles, wenn nicht sogar alles
an Bindungen und Werten, seien sie materieller oder ideeller Art, zurückläßt, trifft selten auf
offene Arme. Vielmehr sind Unverständnis und Ablehnung die Regel, ebenso wie die Weigerung
oder das Unvermögen, sich in die Lage des Flüchtenden hineinzuversetzen. Das Fremde
wird als Bedrohung empfunden und führt, wie die jüngste Vergangenheit zeigt, zu gewalttätigen
Eruptionen.

Dem Nicht-Vertrauten, dem Fremden begegnen wir mit Angst, bilden Vorurteile und verhalten
uns intolerant. Die entstehende Fremdenfeindlichkeit schlägt vom latenten in offenen
Rassismus um. Hoyerswerda, Rostock, Mölln sind Namen/Synonyme für Brandfanale des
blindwütigen Fanatismus, sagen aber nur wenig aus über die alltäglichen und kaum beachteten
Angriffe auf Fremde in Deutschland.

Klaus J. Bade warnt allerdings vor »Katastrophenpropheten« ebenso wie vor »professionellen
Besänftigern« und fordert »eine kollektive Sensibilisierung gegenüber dem Fremden«:
Die Dynamik des Wanderungsgeschehens wirkt fort: Wenn unvorhersehbare Ereignisse nicht
alles anders kommen lassen, müssen sich die Deutschen - von den Ost-West-Binnenwanderungen
ganz abgesehen - gefaßt machen auf ein Anhalten des Aussiedlerzustroms und auf steigende
Mobilität im Europäischen Binnenmarkt. Vor allem aber haben sie zu rechnen mit wachsendem
Zuwanderungsdruck in Ost-West- und Süd-Nord-Richtung: als Ergebnis des wirtschaftlichen
Entwicklungsgefälles und der politischen Strukturkrise im zerfallenden >Ostblock<
sowie vor dem Hintergrund der sich dramatisch zuspitzenden ökonomischen, ökologischen
und politischen Krisenentwicklung in der >Dritten Weh.

All das weckt bei vielen Bundesbürgern diffuse >Einwanderungsangst< und Vorstellungen
von Migration als allenthalben faßbarer Bedrohung. Das reicht von der Angst vor einer Invasion
der >fernen Fremden< aus den Elends- und Todeszonen der >Dritten Welt' und aus der Misere
im Osten Europas bis zur neuen Skepsis gegenüber dem mähen Fremden' im Alltag der
Einwanderungssituation. Die heiseren Schreie von Katastrophenpropheten, Menetekel-Lesern
und Panikmachern sind dabei ebenso verhängnisvoll wie die orgelnden Platitüden professioneller
Besänftiger, alles werde so schlimm schon nicht werden. Nötig ist statt dessen, ohne lähmende
Schreckbilder und tabuisierende Scheuklappen, die gemeinsame Suche nach Antworten
auf die Herausforderungen durch das Wanderungsgeschehen.

Es geht dabei nicht nur um Politik, Gesetze und Institutionen oder um fremdenfreundliche
Sympathiewerbung (>Come togetherU) und gefällige Aufkärung über die sozialen Verkehrsregeln
der Einwanderungssituation. Es geht auch um eine kollektive Sensibilisierung vor dem
Hintergrund >eigener< Erfahrungen mit >Fremden< jenseits und diesseits der Grenzen im Rückblick
auf die langen Entwicklungslinien, an deren Ende die Gegenwart steht. Dabei können
die Deutschen am besten aus ihrer eigenen Geschichte lernen, in der Deutsche in der Fremde
und Fremde in Deutschland nachgerade alle denkbaren Formen und Folgen der Wanderungen
von Menschen über Grenzen, von Grenzen über Menschen und der Ausgrenzung von >Frem-
den< innerhalb der Grenzen erlebt, erzwungen oder erlitten haben. Dazu soll dieses Buch einen
Beitrag leisten21.

Ich schließe, wie ich begonnen habe, mit einer kleinen Geschichte, die Art. 1 Abs.l unseres
Grundgesetzes verdeutlicht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Im Dezember 1837 protestierten Professoren der Universität Göttingen gegen einen Verfassungsbruch
, begangen von ihrem königlichen Landesherrn. Diese »GöttingerSieben«, unter
ihnen die Brüder Wilhelm und Jacob Grimm, wurden unverzüglich aus der Universität geworfen
, drei von ihnen zusätzlich mit Ausweisung innert drei Tagen 'bestraft' - heute würde

22 Bade (wie Anm. 4) S. 17.

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