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Kunstlied, das zum Volkslied wurde, in unseren
Tagen durchgemacht hat. Es gibt natürlich
für Meier nur einen und den gleichen Ursprung
für Volks- und Kunstgesang : persönliche Dichtung
. Nur in der Entwicklung unterscheiden
sie sich.
Die Forschungen früherer Gelehrter fasste
in jüngster Zeit Julian v. Pulikowski in seiner
1933 in Heidelberg erschienenen « Geschichte
des Begriffes Volkslied im musikalischen Schrifttum
» zusammen, wobei er selbst zu wesentlich
anderen Schlussfolgerungen kommt. Er
nimmt den volkskundlich-musikwissenschaftlichen
Standpunkt ein.
In den zum Teil etwas skizzenhaft anmutenden
« Folgerungen » werden drei mögliche Arten
von Volksliedbestimmungen unterschieden.
Neben den wissenschaftlichen Gattungsbegriff
stellt der Verfasser den Ausdrucks- oder Zielbegriff
sowie den Zeitbegriff, wobei in den letzten
beiden Fällen oft der Stilbegriff als Ergebnis
auftrete. Die Bezeichnung Ausdrucks- oder
Zielbegriff soll andeuten, dass die hierher
gehörigen Volksliedanschauungen und Volksliedbestimmungen
Ausflüsse eines Wollens und
Strebens sind, soll zum Ausdruck bringen, was
man sich ersehnt, dass man im Volkslied nicht
etwas Gegebenes, nicht einen Gegenstand,
sondern ein Ziel erblickt, dass man um das
Volkslied ringt, kämpft, dass man es nicht besitzt
, sondern es zu erwerben sich bemüht.
Unter der Bezeichnung Zeitbegriff aber will der
Verfasser das Volkslied all der Gruppen zusam-
mengefasst sehen, die im Gegensatz zu den
vorigen nicht aus inneren Gründen, nicht aus
einem Erlebnis, oder einer wissenschaftlichen
Teilnahme heraus zum Volkslied kommen,
deren Fühlungnahme mit dem Volkslied eine
äussere ist, genau genommen, eine zufällige, die
aus dem Sprachschatz ihrer Zeit die Bezeichnung
Volkslied übernehmen und es auf eine Liedart
beziehen, die durchaus nicht diesen Namen
zwingend verlangt.
Stellt der Begriff Volkslied für den Wissenschaftler
eine Erkenntnis und einen Forschungsgegenstand
aus dem künstlerischen Leben des
Volkes dar, ist das Volkslied als Ausdrucksbegriff
eine Aeusserung irgend welcher geistiger,
innerer Vorgänge und Strömungen, so dient das
Volkslied als Zeitbegriff nur als im Handel
übliche Etikette, als Warenzeichen.
Für v. Pulikowski kommt nur die musikalische
Seite des Volksliedes in Betracht, da
er eine Einheit von Wort und Ton im Volkslied
ablehnt. Dichten und Vertonen bedeuten
ihm zwei « wesensentfremdete geistige Verrichtungen
». Was Lied und Weise oft als
ursprüngliche Einheit erscheinen lasse, beruhe
lediglich auf der Gleichheit des metrischen
Baues, — eine Anschauung, die in solcher
Ausschliesslichkeit doch etwas fragwürdig
erscheint.
Immerhin ist es wertvoll, auch seine Bestimmung
hier festzuhalten : Volkslied = Lied, das
seinen Ursprung im Volk hat ; volkstümliches
Lied = Lied, das aus dem Kreise der Halbgebildeten
und Gebildeten stammt und Eingang
in das Volk gefunden hat. Volksläufig
nennt er ein Lied, das im Volke verbreitet
ist, ohne dass dabei etwas über seine Herkunft
ausgesagt wird.
Es darf aber die Frage aufgeworfen werden,
ob der Begriff « Volkslied » nicht weiter gefasst
werden könnte, um allgemeinen Sprachgebrauch
und wissenschaftliche Definition
nicht allzu stark in Konflikt geraten zu lassen.
Mersmann sieht zwischen Volkslied und Kunstlied
keinen Wesensgegensatz, nur einen Unterschied
in der Fortpflanzung. Erst aus grosser
Entfernung gesehen, ordnen sich die vielgestaltigen
Arten des Volksliedes zu einem
Ganzen und lassen das Gemeinsame erkennen,
welches das Volkslied als Gesamterscheinung
dem Kunstwerk gegen übertreten lässt.
Das sind die Erkenntnisse der Forschung
über das Volkslied.
Unsere Ansicht ist, dass Produktion und
Rezeption miteinander wirken ; dass eine glückliche
Improvisation aus dem Volke hervorgehen
und im Chorgesang verarbeitet zum
Volkslied werden kann ; dass meist aber ein
Individuum als Dichter anzunehmen ist ; dass
das Lied dann vom Volke aufgenommen und
zurechtgefeilt, d. h. « zersungen » wird, und
dass Dichter und Komponist unbekannt bleiben
.
Eine ähnliche Definition hat Dr Gcetze in
die Sätze gekleidet : Volkslied ist ein Lied,
das im Gesang der Unterschicht eines Kulturvolkes
in längerer gedächtnismässiger Ueber-
lieferung und in ihrem Stil so eingebürgert ist
oder war, dass, wer es singt, vom individuellen
Anrecht eines Urhebers an Wort und Weise
nichts empfindet.
In diesem Geiste möge das Lied aufgenommen
werden, das wir kürzlich in einer alten
Liederhandschrift aus dem Elsass entdeckt
haben :
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