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Interessen wahrnehmen, sondern auch jene seiner Mitmenschen
wahren und fördern kann; denn nur die
Achtung- der Rechte Anderer rechtfertigt den Anspruch
auf gleichmässige Anerkennung der ungestörten Ausübung
der eigenen Befugnisse.
Die Religion, die man so gerne beizieht, um dem»
auf solch' natürlicher Grundlage aufgebauten Sittengesetze
den Stempel göttlicher Eingebung aufzudrücken,
hat auf dasselbe nur in so fern Einfluss, als sie mit
dem von ihr besonders cultivirten Gefühle der Unterordnung
des sinnlichen Menschen unter einen höheren
(göttlichen) Willen — der Heilighaltung menschlicher
Satzungen einigermassen gedeihlichen Vorschub und in
dieser Beziehung'namentlich durch Hebung des Pflichtgefühls
bei den minder gebildeten Schichten der Gesellschaft
wesentliche Dienste leisten kann. — Vom
Uebel aber wäre es, dem, was man im gemeinen Leben
Religion nennt, mehr als dieses zuzugestehen, oder sie
gar als die einzige und vorzüglichste Quelle der Moral
anzupreisen. Denn einerseits werden religiöse Anschauungen
nicht selten zum Deckmantel unsittlicher
Handlungen, ja selbst himmelschreiender Verbrechen,
während anderseits die verheissene Aussicht auf Belohnung
sowie die Furcht vor der Bestrafung in einem
jenseits des Grabes ewig fortdauernden andern Leben
jede Gesetzesaclttung und Tugendübung in ihrem sittlichen
Werthe abschwächt.
Nur die wahre, zur Zeit leider in keinem der bestehenden
Bekenntnisse gelehrte und geübte Religion,
die den Menschen niemals zu dünkelhaftem Glaubenshasse
, zu gottvergessener Verfolgung Andersdenkender
verleitet, die neben der Gottesverehrung auch die Liebe
zur Menschheit heiligt, vermöchte in dem Herzen des
Menschen die Empfänglichkeit für edle Bestrebungen
zu heben und zu fördern und jene Gewissenhaftigkeit
im Thun und Lassen zu schaffen, wie sie als Folge
eines unentwegten Pflichtgefühles, einer unverbrüchlichen
Gesetzestreue dem wahrhaft edlen Menschen eigen ist.
Und nur in dem Maasse, als die religiöse Stimmung
läuternd und kräftigend auf die Erkenntniss und das
Gewissen des Menschen einwirkt, wird ihr Einfluss auf
das sittliche Bewusstsein, auf den moralischen Wandel
im Wechselverkehr mit andern Menschen segenbringend
sein. Wo sie aber, wie es leider nur zu sehr der Fall
ist, zum Zankapfel herabsinkt und den Feuerbrand des
Fanatismus unter die Menschen schleudert, da kann von
einer wohlthätigen Mithilfe und Unterstützung zur
Hebung der Gesittung keine Rede sein; denn in diesem
Falle raubt sie dem Menschen die erste Grundbedingung
der Wohlfahrt, den Seelenfrieden, in dem sie die Bande
einträchtiger Liebe zerstört und die unselige Leidenschaft
des Hasses und der Unduldsamkeit schürt und
nähret und damit das ganze Gebäude menschlicher
Glückseligkeit in seinen Grundvesten erschüttert. Es
liegt desshalb im wohlverstandenen Interesse der sittlichen
Zustände, wenn man dem Einflüsse religiöser
Anschauungen auf die Entwickelung und Gestaltung
derselben nicht allzu grossen Werth beilegt. Vorsicht
und Klugheit gebieten sogar, der hergebrachten landläufigen
Meinung, dass die Religion die Quelle der Moral
sei, entgegenzutreten und die Maximen der Gesittung
nicht auf die Beziehung des Menschen zur Gottheit,
sondern auf die Natur der Verhältnisse zurückzuführen,
in welchem der Mensch der Menschheit gegenübersteht.
Dieses Verhältniss ist ein wesentlich anderes als
jenes zu dem unerforschlichen Urheber aller Dinge. Zu
seiner Darlegung sind keinerlei Vertiefungen des im
Ergründen des Unergründlichen unersättlich gierigen
Geistes, keinerlei Ergüsse eines auf dem Gebiete des
Transcendentalen in süsser Verzückung schwärmenden
Herzens von Nöthen. Verstand, Vernunft und Gemüth
bewegen sich hier auf dem durchweg realen Boden
einer sichtbaren Welt, auf der sich der Mensch warm
herumtummelt, wie das Bienenvolk um seine kunstvollen
Brut- und Honigzellen, oder wie die Schaar der Ameisen
im zusammengetragenen Haufen modernder Pflanzenreste
.
Versteht man unter dem Aufschwung des menschlichen
Geistes und Herzens ins „Reich des Idealen"
nur den nie befriedigten und darum vergeblichen Drang
zur Erkenntniss des Ueberirdischen und Uebersinnlichen,
das sogen. „Streben nach Wahrheit", auf welchem Gebiete
die unermüdliche Phantasie neben manchem Schönen
und Guten auch entsetzlich viel Unsinniges hervorgezaubert
hat: so mag man eine Betrachtung der Bewegungen
des menschlichen Lebens nach seiner eigenen
Natur, ohne Berücksichtigung etwaiger Beziehungen zu
einem die Geschicke lenkenden höheren Willen —, für
eine realistische oder materialistische halten. In den
Augen frömmelnder Schwärmer oder fanatischer Parteigänger
wird man diesem Vorwurfe auch dann nicht
entgehen, wenn festgestellt wird (wie wirklich feststeht),
dass für das sichtbare, reale, ausschliessliche Erdenleben
Zustände angestrebt werden können, welche den Stempel
einer bis jetzt noch nirgends erreichten idealen Vollkommenheit
an sich tragen, Zustände, in welchen die
Idee wahrer Menschenwürde und edelmüthiger
Liebe zur Menschheit ihre allseits beglückende Verkörperung
finden. Es sind dies jene Zustände, in welchen
die Humanität ihre schönsten Triumphe feiert und
der Mensch des höchsten Maasses irdischer Glückseligkeit
theilhaftig wird.
Wohl wird der Mensch diesen idealen Zustand
seines Erdendaseins nicht erreichen; aber nach dem
Grundsatze, dass, wer das Hohe will, sich an das Höchste
wagen müsse, ist er gezwungen, alle seine Kräfte in
Bewegung zu setzen, um diejenigen Glücksgüter zu erringen
, womit er seines Leibes und seiner Seele Durst
und Hunger stillen kann.
Was ihm keine der Religionen der Erdenvölker gebietet
, dazu drängt ihn die eigene Nothdurft und die
schuldige Rücksicht auf diejenigen, mit denen er im
Familienkreise, im Gemeinde- und Staatsverbande zu
gegenseitiger Unterstützung und Schutzwehr zu leben
angewiesen ist.
Der Mensch muss arbeiten, um sich die mannig"
faltigen Güter des Lebens zu beschaffen, sei es, dass
er solche unmittelbar durch Aneignung aus dem Schoosse
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