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Wie von Thomson hervorgehoben worden ist, hat nun der deutsche Chirung Hueter schon 1863 diesen
Charakter bei dem neugeborenen (deutschen) Kinde beobachtet. Dagegen habe ich in der hier oben angeführten
Literatur (Manouvrier, Turner, Thomson, Havelock Charles) keine Angabe über die Retroversion des Fcetus
angetroffen. Von meinen Collegen, den Doctoren Alb. Lindström und Hultkrantz wurde mir indessen mitgetheilt,
dass auch hierin Hueter schon 1863 1 ein Vorgänger war, indem er die Rückwärtsbiegung des Schienbeines und die
starke Neigung seiner inneren Gelenkfläche nach hinten beobachtet hatte. Hueter hatte zwar nicht das Verhalten
dieser Charaktere während des Fcetallebens verfolgt, sondern er that ihrer nur beim neugeborenen Kinde Erwähnung.
Und da ihm das zahlreiche Vorkommen der Retroversion bei erwachsenen Individuen wilder Völker und an Skeleten
aus dem Steinalter nicht bekannt war, so ist es ganz natürlich, dass er hierin keine geerbten Anlagen sehen konnte.
Er suchte anstatt dessen die Erklärung der Form, welche die Gelenkflächen des Schienbeines des neugeborenen
Kindes zeigen, in dem verschiedenem Druck, dem sie während der Entwicklung des Foetus ausgesetzt sind. Während
der Entwicklung des Fcetus befinden sich, sagt er, die unteren Extremitäten in einer gebogenen Lage, namentlich
ist das Kniegelenk in der Regel stark gebogen; die Beugemuskeln entwickeln sich in ihrer Längsrichtung weniger
als die Streckmuskeln; die Gelenkfortsätze des Oberschenkelknochens üben einen Druck auf den hinteren Theil der
Gelenkflächen des Schienbeines aus, was namentlich von der inneren Gelenkfiäche gilt; dadurch wird die Biegung
des Schienbeinkopfes nach hinten und die Neigung seiner Flächen, namentlich der inneren, verursacht. Nachher
entsteht aber durch die veränderten Druckverhältnisse, in denen sich die Theile des Kniegelenkes nach der Geburt,
besonders aber beim erwachsenen Individuum befinden, eine Umgestaltung des Schienbeinkopfes, der nun in eine
mehr aufrechte Stellung kommt, d. h. mehr und mehr in die Längsaxse des Knochens zurückgeführt wird;
diese beiden Gelenkflächen, vor Allem aber die innere, werden abgeplattet und stellen sich mehr horizontal,
in einen mehr geraden Winkel gegen die Längsaxse des Schienbeines.
In dieser von Hueter gegebenen Darstellung liegt unbestreitbar etwas Ansprechendes. Die Erklärung
erscheint einfach und natürlich, und die Entwicklung scheint sich auf rein mechanische Verhältnisse zu stützen.
Und dennoch muss ich hervorheben, dass ich für meinen Theil die Frage als nicht so einfach, sondern im
Gegentheil als sehr complicirt ansehe. Ein Jeder, der sich in den letzten Decennien in grösserem Umfange mit
morphologischen Fragen beschäftigt hat, dürfte zu der Auffassung gekommen sein, dass die organischen Formbildungen
nicht allein durch die gröberen mechanischen Gesetze bestimmt werden. Es ist nicht nur der von aussen wirkende
»Druck« und die »Zugkraft« u. s. w., die gestaltend und umformend wirken, sondern es giebt, namentlich während
der Entwicklung des Fcetus, in den verschiedenen Theilen des Organismus anderer Kräfte, die wesentlich mitwirken;
gewisse Theile haben eine ihnen innewohnende, offenbar geerbte Disposition zu schnellerer und reicherer Entwicklung.
Ein Jeder, der z. B. die embryonale und foetale Entwicklung des Gehirns näher studirt hat, wird sicher finden, was
diese innewohnenden Einflüsse für eine Bedeutung für die Formenbildung haben. Es ist zu beklagen, dass wir diese
»Kräfte« noch nicht sicher und klar unter die gewöhnlichen mechanischen Gesetze ordnen können. Man steht in
dieser Hinsicht noch am Anfange einer Kenntniss, doch hat man in der letzten Zeit im Ernste angefangen, die hierher
gehörigen Phänomene zu eruiren und in rein natürlicher Weise zu erklären. Man braucht daher seine Zuflucht nicht
länger zu metaphysischen Erklärungen zu nehmen, wenn man auch zugeben muss, dass man vor etwas Unbekanntem
steht, das. man bis auf weiteres mit einem x bezeichnet. Die Ursachen hier in der Welt sind im Allgemeinen schwer
zu erforschen. Dieses gilt nicht am wenigsten von den morphologischen Fragen, von den, fast möchte ich sagen, bis in
das Unendliche wechselnden Formen der Organismen und den Formen ihrer besonderen Organe, so wie sie von
Generation auf Generation mit typischer Gleichheit und doch mit einer Variabilität2 vererbt werden, die immer
deutlicher hervortritt, je mehr man ihr nachforscht. Für die Erklärung aller dieser Phänomene reichen, wie gesagt,
die gewöhnlich- angeführten, rein mechanischen Gesetze nicht zu. Hierauf können gewissermassen ohne dass
deshalb die Meinung missverstanden zu werden braucht die Worte des hervorragenden deutschen Biologen
1 C. Hueter, Anatomische Studien an den Extremitätengelenken Neugeborener und Erwachsener. III. Das Kniegelenk. Virchow's
Archiv, Bd. 26, 1863.
2 Was die Variabilität anbetrifft, so hat man mehr und mehr angefangen, das Vorhandensein einer naturgemässen Disposition für
eine Variation, eine langsam fortschreitende, für unsere Augen oft beinahe unmerkliche Umänderung der Organismen zu ahnen, und man
richtet seine Blicke mehr und mehr auf diese durch Gesetze geregelte Variabilität als der Ursache des Entstehens neuer Arten, dazu mehr
beitragend, als die wenigstens scheinbar „zufällig" vorkommende, scharf ausgeprägte Variation, der man bei der natürlichen Auswahl einer so
grosse Rolle zugeschrieben hat.
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