http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/boos1906/0022
16
ERSTES KAPITEL.
bestimmte Gebräuche: Rede und Gegenrede der Vorsteher, die
Meldung, daß die Versammlung bereit sei, dann Fragen und
Antworten über die Wahrung der Formalien, über clie Zeit der
Handlung etc., feierliche Verkündigung des Friedens, Ausschluß
der Mchtberufenen, feierliche Eröffnung und Schließen der
Sitzung. Das Individuelle tritt in der Frühzeit der Geschichte
hinter dem Allgemeinen zurück. Der Mensch konnte sich nur
unter seinen Genossen wohl fühlen, in ihnen hatte er seinen
Halt; allein auf sich gestellt, ist er verloren, wie das Tier in
der Einöde. Der Schatz von Gedanken, Erinnerungen, Eindrücken
und Erfahrungen war noch unendlich geringer als heutzutage
, und der Ausdruck für die Empfindungen nahm leicht
eine formelhafte Wendung. Denn „alles Menschenleben, vom
Kaiser bis zum fahrenden Bettler, von der Geburt bis zum
Tode, vom Morgen bis zur Nacht ist durch festes Ceremoniell,
sinnvollen Brauch, stehende Formeln eingehegt. Ein merkwürdiger
schöpferischer Trieb arbeitet unendliche Fülle von Bildern,
Symbolen, von Sprüchen und energischen Bewegungen heraus,
um jede Erdenhandlung zu idealisieren. Wie das Volk sein Verhältnis
zum Göttlichen, wie es alle menschliche Tätigkeit verstand
, ist darin ausgedrückt. Es ist ein völliges Umschaffen
des realen Lebens zu bedeutungsvoller Bildlichkeit; und es ist
die Methode naiver Zeit, dem Menschen „Zucht" zu geben. Ott
schuf das Volk solche Formen nur, um freudigem Behagen lebhaften
Ausdruck zu linden, in andern Fällen wirkte der Drang,
Geistiges auch sinnlich wahrnehmbar zu machen, und das Bedeutende
, was in dem einzelnen Geschäft lag, zu imponierendem
Ausdruck zu bringen, oft sollte dadurch das Zufällige, Kleine
geweiht und an Hohes angefügt werden. Endlich diente vieles
Ritual zum Schutzmittel gegen schädlichen Eindruck überirdischer
Gewalten; in diesem Falle hat Wort und Handlung geheimnisvolle
Wirkung.
Bei jeder Rechtshandlung ist mimische Bewegung, bildliche
Aktion; ... an jedem bedeutsamen Tage des Jahres hingen eigentümliche
Gewohnheiten^ um jede große Funktion des Lebens,
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/boos1906/0022