http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/boos1906/0026
20
ZWEITES KAPITEL
sehen Kulturarbeit sich durch die Stürme der Völkerwanderung
gerettet hat, welchen Grad der Einwirkung Römischer Kultur
auf die in das ehemalige Eömische Weltreich eingedrungenen
Germanen man anzunehmen habe. Franzosen und Engländer
überschätzen durchweg diesen Einfluß, die Deutschen unterschätzen
ihn. Er ist in den südwestlichen Landschaften Deutschlands
größer als in den nordöstlichen, stärker in der Provence
als in der Normandie, in den Flußtälern eher wahrzunehmen
als im Gebirg. So viel ist sicher, daß in allen Gegenden, wo
die Kömische Kultur feste Wurzeln gefaßt hat, ihre Einwirkung
auch in den Zeiten der hereinbrechenden Barbarei niemals
ganz aufgehört hat. Die romano-gallische Kultur, so morsch
und abgelebt sie auch war, ging nirgends ganz zu Grunde, da
die Germanen, trotz ihrer Abneigung gegen die Städte, bald
gelehrige Schüler der Kömer geworden sind. Ohne diese Zuneigung
zu den Römischen Institutionen wäre ein wirklicher
Kulturfortschritt für die Germanen unmöglich gewesen. Freilich
die Einrichtungen des Römischen Staates, die Grundsätze und
Organisation der Verwaltung, der Rechtspflege, sind sogar in
Italien und Südfrankreich vollständig durch die neue Staats-,
Gesellschafts- und Rechtsordnung beseitigt worden, und es kann
keine Rede davon sein, daß die Römische Städteverfassung mit
ihren Kurien und Kollegien sich ins Mittelalter hinein erhalten
hätte. Hingegen vererbten sich die Römischen Traditionen in
Wissenschaft, Kunst und Handwerk auf die Germanen. Die Kontinuität
der Kultur blieb somit bewahrt. Die Technik der Luxusarbeiten
dauerte fort, da die Reichen, die Könige und Bischöfe,
ihrer bedurften zur Ausschmückung ihrer Hallen und Kirchen.
Die Kunst der Bildner und Steinmetzen war in den Genossenschaften
Römischer Handwerker erstarrt und in den gallischrheinischen
Landschaften verroht, die Erfindungskraft erlahmt
und außerordentlich dürftig; doch die Formen und Kunstgriffe
wurden von einer Generation zur andern vererbt. Die Bauhandwerker
arbeiteten mit den gleichen Hilfsmitteln weiter wie
zur Zeit der Blüte Römischer Kultur; ihre Werkzeuge und Er-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/boos1906/0026