http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/boos1906/0089
DIE MORALPHILOSOPHIE UND DAS TOLERANZPRINZIP IN ENGLAND. 83
ltist, das Tier im Menschen regte sich, und die Politur der
Kultur verschwand. Schamlosigkeiten der ungeheuerlichsten Art
waren an der Tagesordnung und das, was früher für heilig
gegolten hatte, wurde nun verhöhnt. Wie die Puritaner nie den
Mund hatten öffiien können, ohne ihre Rede mit Bibelsprüchen
zu verzieren, so gefiel man sich jetzt in rohen mit Flüchen
gewürzten Ausdrücken. Das Theater war eine Pflanzstätte der
ärgsten Immoralität.1 Ein Jagen nach Er werb und Macht begann sich
aller Seelen zu bemächtigen. — Der Materialismus gewann die
Herrschaft, und unter seiner Wirkung wurde das Land reich.
Thomas Hobbes (geb. 1588, gest. 1679) übte, obgleich von allen
Seiten angefeindet, einen außerordentlichen Einfluß auf seine
Zeitgenossen aus.2 Er eifert gegen jede Metaphysik, und er
gebraucht das plastische Bild: „Unkörperliche Substanzen sind
viereckige Kreise, die man nicht denken, sondern an welche
man nur glauben kann/ Die Wissenschaft hat es nur mit körperlichen
Substanzen zu tun. Auf dem ethischen Gebiet ist er
ebenfalls Materialist und leugnet die Objektivität der Begriffe
gut und böse. Erst das Denken macht sie dazu. Die Grundlage
der menschlichen Gesellschaft ist der Egoismus, deshalb besteht
ein Kampf Aller gegen Alle — also derselbe Gedanke, den Darwin
mit dem Schlagwort: „Der Kampf ums Dasein" bezeichnet. Aus
diesem Naturzustande des Kampfes Aller gegen Alle kann nur
der Staat Kettung bieten, und am besten kann der Staat seine
Aufgabe leisten in Form des absolutistischen Königtums; doch
nicht ein Königtum von Gottesgnaden, sondern ein Königtum, das
auf einem Vertrage mit dem Volke beruht. Diesen absolutistischen
Staat nennt er bezeichnend Leviathan, ein Ungetüm, das
von keinen höheren Eücksichten geleitet ist. Die Theologie wird
als unheilstiftendes Scheusal gebrandmarkt, und die Religion ist
ihm keine Sache der Wissenschaft. Sie wird schlagend als die
„Furcht unsichtbarer Mächte * definiert, „sei es, daß diese er-
1 Hettner, Geschichte der Englischen Litteratur, 5. Auflage, 97 ff
» S. Windelband 1. c. I, 135 ff. Lange 1. c. I, 234 ff.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/boos1906/0089