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ACHTES KAPITEL.
Die Entartung der Freimaurerei
im 18. Jahrhundert.
In Deutschland, wo die religiösen Leidenschaften zuerst und
am heftigsten aufgelodert sind, erwachte auch zuerst der Gedanke
der Toleranz. Dreihundert Jahre vor Luther hat ein Deutscher
Kaiser der Kirche das kühne Wort ins Gesicht geschleudert:
Moses, Christus und Mohamed seien alle drei Betrüger. Derselbe
hat dann aber auch, um die Gunst des Papstes zu erlangen,
in Deutschland die ersten Ketzer verbrennen lassen. In edlerer
und humanerer Weise traten im 16. und 17. Jahrhundert Männer
auf wie Sebastian Franck, S. Castellio, J. V. Andreae, A. Comenius,
die rückhaltlos die Glaubensfreiheit verfochten. Allein der
dreißigjährige Krieg ließ solchen edlen Regungen keinen Raum
in Deutschland. Der westfälische Friede beschloß sodann die
Periode der Glaubenskriege, nur hie und da glühte es noch
unter der Asche. Das deutsche Volk war darniedergeworfen, seiner
besten Lebenskräfte beraubt; hunderte von Dörfern waren vom
Erdboden vertilgt worden, viele tausend Menschen elend zu
Grunde gegangen; der Rest lebte in Armut dahin, kein Volk
mehr, sondern ein Konglomerat von armseligen Staaten und
Stäätchen, die auf jeden Wink des Auslandes horchten. Die
alte urwüchsige nationale Kultur war vollständig vernichtet, so
daß zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit eine tiefe,
unüberbrückbare Kluft bestand. Der Deutsche besaß kein Verständnis
mehr für die Kunst und Poesie seiner Vorväter. Lang-
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