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NEUNTES KAPITEL.
wenn sich auch einmal das Interesse an der Sache verlieren
mag. Nicht alles hält inhaltlich der bessern Erkenntnis Stand,
denn die historische Deduktion ist ganz verfehlt, wie schon
Nicolai bewiesen hat, und auch sonst zeigen sich, so hoch der
Flug ist, Schwächen. Denn Lessings Geist wurzelt noch völlig
im Zeitalter der Aufklärung, während Herder, Goethe und
Schiller Kinder einer neuen Zeit sind. Er hat zur Natur, Kunst
und Geschichte kein intimeres Verhältnis. Er, der immer in
reizlosen Gegenden gelebt hat und auf den selbst die Farbenpracht
und Formenschönheit Italiens keinen besondern Eindruck
machte, wünschte sich zur Abwechslung, daß im Frühling die
Natur einmal erröten statt ergrünen möchte. Nie konnte er
sich von der Vorstellung lösen, daß alle Kunst und Poesie auf
Besserung und Belehrung hinarbeiten müsse, und seine eigenen
Dichtungen sind mehr Produkte des rechnenden Verstandes als
der Phantasie. So ist denn auch seine Auffassung von dem
Wesen der Freimaurerei ein Ergebnis der Abstraktion ohne Erkenntnis
ihrer Entstehung und Stellung zu den übrigen geistigen
Faktoren. Das wichtigste Moment der Freundschaft wird bei
ihm nur ungenügend gewürdigt und für die Sprache des Gemütes
, die freimaurerische Symbolik zeigt er geringes Verständnis.
„Auch ich war an der Quelle der Wahrheit und schöpfte.
Wie tief ich geschöpft habe, kann nur der beurteilen, von dem
ich die Erlaubnis erwarte, noch tiefer zu schöpfen. — Das Volk
lechzet schon lange und vergehet vor Durst." — Mit diesen
Worten widmet er das Werkchen seinem Herrn, dem Herzog
Ferdinand von Braunschweig, der das Recht hatte, ihm den
Mund zu schließen. Meisterhaft ist die Einkleidung der Dialoge.
Zwei Freunde, Falk und Ernst, spazieren an einem erquickenden
Morgen im Bad Pyrmont. Der Sinn ist erfrischt und für die
lautere Wahrheit empfänglich. Ein vorüberfliegender Schmetterling
, dem Falk nachjagt, unterbricht das erste Gespräch. Ernst
zeigt sich darüber etwas empfindlich und lehnt zuerst im zweiten
Gespräch eine Fortsetzung ab, indem alle Freimaurer mit Worten
zu spielen lieben und sich fragen lassen, ohne zu antworten.
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