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DEE EINFLUSS DER EREIMAUREREI AUF DIE GEISTIGE KULTUR. 323
bleibet — sie werden aufmuntern, belehren, befestigen, und
Männer wecken, die auch wie du der Wahrheit durchaus dienen:
jeder Wahrheit, selbst wo sie uns im Anfange fürchterlich und
häßlich vorkäme; überzeugt, daß sie am Ende doch gute,
erquickende, schöne Wahrheit werde. Wo du irrtest, wo dich
dein Scharfsinn und dein immer tätiger, lebendiger Geist auf
Abwege lockte, kurz, wo du ein Mensch warst, warst du es
gewiß nicht gern und strebtest immer, ein ganzer Mensch, ein
fortgehender zunehmender Geist zu werden."
all den großen Geistern der jungem Generation stand
Lessing am nächsten. Er hatte ihn persönlich kennen
gelernt und unterhielt mit ihm einen freundschaftlichen Briefwechsel
. Wenn er eine neue Schrift herausgab, pflegte er
zu fragen: „Was wird Lessing dazu sagen?" Herder war, wie
Lessing, ein Nordländer, noch mehr als dieser, eine durchaus
unharmonische Natur, der bis zu seinem Tode unablässig an
seiner Bildung arbeitete, aber nie das Gleichgewicht erlangte.
Er konnte bezaubernd liebenswürdig sein, wenn ihn aber die
Laune ankam, überaus gallig und verletzend; namentlich in der
spätem Zeit machte er sich und andern das Leben recht sauer.
Er war eine wahrhaft genialische Natur, voller Gährung, ein
Schriftsteller von außerordentlicher Fruchtbarkeit und Vielseitigkeit
, überaus anregend, von einer unendlichen Fülle neuer
Gedanken, Eben diese Überfülle von Gedanken bewirkte, daß
er fast niemals eine Arbeit zur vollkommenen Keife gedeihen
ließ; er wollte stets die Früchte brechen, ehe sie ganz gezeitigt
waren. Daher sind die meisten seiner Schriften Fragmente
geblieben. Das Fragmentarische bildet ja überhaupt ein Charakteristikum
der klassischen Deutschen Literatur. Die produktive
Kraft war dermaßen groß, daß sich die großen Meister nicht
die Ruhe gönnten, einen Vorwurf ganz zu vollenden; andere
1 Vgl. R. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Schriften.
2 Bände. Berlin. EL Künzel, Maurerisches Herder-Album. Darmstadt 1845.
Sämtliche Werke ed Suphan. Berlin 1877 ff. L, Keller, J, G. Herder und
die Kultgesellschaften des Humanismus. Ein Beitrag zur Geschichte des
Maurerbundes. Berlin 1904.
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