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NEUNTES KAPITEL.
Gedanken schoben sich dazwischen und drängten das angefangene
zurück; so bei Lessing, bei Schiller, am meisten bei Goethe.
Herder hatte die feinste Empfindung für die wahre Kunst und
die wahre Poesie; er ist es ja, der das Volkslied aus den
verschütteten Schachten wieder herausgegraben, der dem Deutschen
Volke neben einem Lessing und Winkelmann wiederum
ein Verständnis für die wahre Kunst erschlossen hat; ihm selbst
blieb die volle Gabe künstlerischer Schöpfungskraft versagt, dafür
fehlte ihm die Sinnlichkeit und Phantasie, und der rhetorische
fachwissenschaftliche Geist überwucherte das künstlerische Gefühl.
Dagegen besaß er den Instinkt, „das Bedeutende aus dem
Trümmerfeld der Vergangenheit herauszufinden, das vergessene
Verdienst ans Licht zu ziehen und den Schall einer verschollenen
Stimme dem eigenen Zeitalter von Neuem hörbar und wirksam
zu machen."1 Wenn er eine ihm kongeniale Persönlichkeit entdeckte
, so gelang ihm ihre Charakteristik überaus wohl, so
z. B. die Schilderung des J. V. Andreae, die Wort für Wort auf
Herder selbst passen würde. „Seine Organisation," heißt es da,
„muß so fein gewesen sein, wie ein moralischer Sinn es ist:
denn sein Witz, seine Bemerkungen, die ganze Richtung seiner
Empfindungen, selbst seine schärfsten Urteile, seine bitterste
Satyre sind allemal aufs feinste moralisch. Der unermeßliche
Vorrat von dem, was er wußte, die sonderbare Biegsamkeit
seines Geistes für alle Kunst, für alles Wissens würdige und
Schöne, noch mehr aber die zerstreuende Geschäftigkeit, in der
er lebte, sein früher Zusammenhang und Umgang mit so
mancherlei Menschen, nichts von alle diesem konnte ihn von
jenem Einen Wahren entfernen, das allenthalben der Geist seiner
Schriften ist. War er kein Dichter, so war er etwas Besseres —
Lehrer der echten Menschenliebe und Menschen Weisheit."
Bei J. V. Andreae fand er Andeutungen von einer Gesellschaft
edler Menschen, die den Zweck hatte, die Menschheit zur
sittlichen Vollkommenheit zu führen. Ehe Herder Andreaes Schriften
kennen lernte, war er bereits 1766 zu Biga der Gesellschaft der
1 Haym 1. c. II, 101.
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