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NEUNTES KAPITEL.
Sein Idealismus trug ihn über alle Gefahren und Unbilden des
Lebens hinweg. Er begrüßte den Ausbruch der Französischen
Revolution mit lautem Jubel. Seit Einführung des Christentums
und seit Einrichtung der Barbaren in Europa, außer der Wieder-
auflebung der Wissenschaften und der Reformation habe sich
nichts ereignet, das diesem Ereignis an Merkwürdigkeit und
Folgen gleich wäre. Er träumt, daß die Französische Revolution
uns die Zeiten der Griechen und Römer, ihren republikanischen
Geist und damit die Bedingungen einer der ihrigen verwandten
Dicht-, Rede- und Geschichtskunst wiederbringen werde. Multa
renascuntur wurde nun sein Wahlspruch. Da er mit seinen
freien Ideen nicht offen hervortreten durfte, schob er einen
Mann als Vertreter seiner Ansichten vor, der sein Ideal eines
echten Maurers verwirklichte, Benjamin Franklin, den Mitbegründer
Amerikanischer Freiheit. Nach dem Beispiele Franklins
der in Philadelphia eine philosophisch-philanthropische Gesellschaft
gegründet und für diese Statuten, Junta genannt, entworfen
hatte, plante auch Herder eine solche Gesellschaft, die
zwar nicht der Tummelplatz politischer Diskussionen werden
sollte, „aber Mängel der Gesetzgebung bescheiden und vernünftig,
mit Aufmerksamkeit auf das, was zur Verbesserung der Gesetze
anderwärts geschieht," erörtern solle. „Wenn jeder Geist, der
mit der Zeit fortschreitet, das Merkwürdigste verfolgen muß, das
in ihr geschieht; sollten wir das Merkwürdigste, das in unserer
Zeit geschieht: die der Menschheit nützlichsten oder gefährlichsten
Experimente mit unserer Betrachtung, unserm Urteil,
unserer Meinung nicht auch verfolgen?"
Der Geist der Zeit packte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt.
Allein die Zeitverhältnisse geboten Vorsicht, zumal der Herzog
auf politische Raisoneurs nicht gut zu sprechen war. Jetzt versteckte
er sich hinter die Kolossalgestalt Martin Luthers; denn
Luther mit seinem Freimut, seiner Deutschheit und Derbheit
war schon lange sein Mann. Nun, da die politischen Fragen
alle anderen Interessen verdrängten, verfaßte er „ein kleines
goldenes A-B-C von Luthers Sprüchen und Lehren",1 in denen
1 Abgedruckt im Herder-Album p. 210 ff. Sämtliche Werke XVIII 509 ff.
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