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NEUNTES KAPITEL.
Hallen, wo Liebe nur zur Pflicht führt, ist bloß der Eine, der
flucht, statt zu segnen."1
öoethe erteilte Herders Humanitätsideal seinen Beifall,
wenn auch nicht ohne einen leisen Zweifel: „Auf Herders dritten
Teil," schreibt er seiner Freundin, „freu ich mich sehr, hebe
mir ihn auf, bis ich sagen kann, wo er mir begegnen soll Er
wird gewiß den schönen Traumwunsch der Menschheit, daß es
dereinst besser mit ihr werden möge, trefflich ausgeführt haben.
Auch muß ich selbst sagen, halt ich es für wahr, daß die Humanität
endlich siegen wird; nur fürchte ich, daß zu gleicher Zeit die
Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter
werden wird."3 Goethe war eben der einzige Gesunde
unter den Kranken, dem der Anschluß an das Leben der
allgemeinen Natur nur die physische Seite seiner Genialität war.
Auf ihn paßt vor allem der Römerspruch: „Ich bin ein Mensch,
nichts menschliches achte ich mir fremd." Sein großer Geist
umfaßte und erkannte die Menschheit und Natur in ihrer ganzen
Realität und Idealität. Das schöne Wort Jung-Stillings: „Goethes
Herz, das nur wenige kannten, war so groß, wie sein Verstand,
den alle kannten, * hat sich durch sein ganzes Leben bewahrheitet
und ebenso das Lob Schlossers: „Wenn er einmal in der
Welt glücklich wird, so wird er Tausende glücklich machen;
und wird ers nie, so wird er immer ein Meteor bleiben, an dem
sich unsere Zeitgenossen würden müde gaffen und unsere Kinder
wärmen werden.* 5 Schiller, der ihn anfangs mit Mißtrauen
betrachtete, rühmte an Goethe sein Dichtergenie: „Nach meiner
innigsten Überzeugung kommt kein anderer Dichter ihm an Tiefe
1 E. Schmidt, Lessing II p. 535.
2 Brief vom 8. Juni 1787. Weimarer Ausgabe VIII, 233.
3 Leider fehlt es noch immer an einer würdigen Goethe-Biographie, die
erst möglich sein wird, wenn die große Weimarer Ausgabe fertig ist. Die
beste Arbeit bietet A. Bielschowsky, Goethe. Sein Leben und seine
Werke. München. L Dritte Auflage 1902. IL 1904 (nach seinem Tode herausgegeben
mit einem banalen Schluß von Th. Ziegler). Vgl. V. Hehn,
Gedanken über Goethe u. J. Pietsch, J. W. von Goethe als Freimaurer.
Leipzig 1880. Brennecke in der Bauhütte 1875 p. 50 ff.
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