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NEUNTES KAPITEL.
„welcher zu Fuß an der Spitze seines Heeres den bewohnten,
ihm unterworfenen Erdkreis durchschritt und ihn so erst vollkommen
in Besitz nahm." Indes jetzt ist die Zeit vorüber, wo
man abenteuerlich in die weite Welt rannte, denn die Wissenschaft
hat uns die Erde genügend bekannt gemacht. „Doch kann
zu einer vollkommenen Klarheit der Einzelne nicht gelangen.
Unsere Gesellschaft aber ist darauf gegründet, daß jeder in
seinem Maß, nach seinen Zwecken aufgeklärt werde. Hat irgend
einer ein Land im Sinne, wohin er seine Wünsche richtet, so
suchen wir ihm das Einzelne deutlich zu machen, was im Ganzen
seiner Einbildungskraft vorschwebte . . ♦ Doch was der Mensch
auch ergreife und handhabe, der Einzelne ist sich nicht hinreichend
, Gesellschaft bleibt eines wackern Mannes höchstes
Bedürfnis. Alle brauchbaren Menschen sollen in Bezug unter
einander stehen, wie sich der Bauherr nach dem Architekt, und
dieser nach Maurer und Zimmermann umsieht." Niemand gibt
es, der nicht versichert wäre, daß er überall, wohin Zufall,
Neigung, selbst Leidenschaft ihn führen könnte, sich immer wohl
empfohlen, aufgenommen und gefördert, ja von Unglücksfällen
möglichst wieder hergestellt, finden werde.
„Zwei Pflichten sodann haben wir aufs strengste übernommen
: jeden Gottesdienst in Ehren zu halten, denn sie sind
alle mehr oder weniger im Credo verfaßt; ferner alle Regierungsformen
gleichfalls gelten zu lassen, und, da sie sämtlich
eine zweckmäßige Tätigkeit fordern und befördern, innerhalb
einer jeden uns, auf wie lange es auch sei, nach ihrem Willen
und Wunsch zu bemühen. Schließlich halten wir's für Pflicht,
die Sittlichkeit ohne Pedanterie und Strenge zu üben und zu
fördern, wie es die Ehrfurcht vor uns selbst verlangt, welche
aus den drei Ehrfurchten entsprießt, zu denen wir uns sämtlich
bekennen,1 auch alle in diese höhere allgemeine Weisheit, einige
sogar von Jugend auf, eingeweiht zu sein das Glück und die
Freude haben.
1 Siehe Goethes Religionsanschauung in s. Werken, Ausgabe lezter
Hand 22, p. 14 ff.
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