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ZEHNTES KAPITEL.
haspeln, so kann man ihnen nicht ganz Unrecht geben. Die
Flut des Geringwertigen und Mittelmäßigen erstickt das Gute.
Diese geistige Mittelmäßigkeit und geistige Schlaffheit macht
sich auch in den Logen breit. Man baut die schönsten Logenhäuser
mit prachtvollen Klubsälen und Kegelbahnen, aber für
die Unterstützung irgend eines geistigen Werkes hat man kein
Geld, und die Bibliothek steht meist bestaubt und unbenutzt in
einem Winkel. Gerade weil die Freimaurerei gegenwärtig nicht
mehr in der Mode ist, sollte man sich ihr mit doppelter Hingebung
widmen, indem man sich sagt: „Wir sind die Erben
eines uns überkommenen unersetzlichen Schatzes; wir haben die
tiefe Lebensauffassung aus einer jetzt entgegenstehenden oberflächlichen
Strömung hinüberzuretten bis auf bessere Zeiten/
Ist denn wirklich die Freimaurerei überflüssig geworden? Die
Gegensätze zwischen den Nationen, den Konfessionen und den
Ständen sind heute schroffer als zur Zeit, in der Lessing seinen
Nathan schrieb. Auch jetzt wäre mit Lessing recht sehr zu
wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die
über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau
wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört. Recht sehr
zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte,
die dem Vorurteile ihrer angebornen Religion nicht unterlägen;
nicht glaubten, daß alles notwendig gut und wahr sein müsse»
was sie für gut und wahr erkennen. Recht sehr zu wünschen,
daß es in jedem Staate Männer geben möchte, welche bürgerliche
Hoheit nicht blendet und bürgerliche Geringfügigkeit nicht
ekelt; in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herabläßt und
der Geringe sich dreist erbebet!
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