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Reichsgasse und obere Gasse, stossen nun
im Martinsplatz rechtwinklig aufeinander
und bilden damit ein Anlageschema, das
von den einfachsten Typen der mittelalterlichen
Stadt abweicht. Ohne zwingende
Gründe pflegte man aber nicht von dem
Prinzip abzulassen, die zwei an den Schmalseiten
angelegten Tore durch den Hauptverkehrsweg
direkt zu verbinden; an ihn
schlössen sich dann die Nebenwege ringförmig
, parallel oder im Rippensystem an.
Die Terrainverhältnisse hätten es durchaus
erlaubt, die Reichsstrasse beim Bärenloch
hindurch an der alten Metzg vorbei direkt
über die Plessur zu führen (tatsächlich bestand
dort ja auch schon früh ein Übergang,
auf den eine Ausfallspforte für Flankenangriffe
zielte), anstatt sie vom Martinsplatz
brüsk in Parallelrichtung zur Plessur zu
werfen. Sofort verständlich aber wird diese
Anlage, wenn wir annehmen, dass die alleinige
Hauptstrasse der frühmittelalterlichen Stadt
eben jene obere Gasse war, ausmündend in
den unter dem Schutz der Burg gelagerten
Marktplatz bei St. Martin. Auf den Markt
und das Kastell musste natürlich, als dem
Zentrum des Lebens, die Reichsstrasse
treffen. Dort konnte sich dann ein neuer
Stadtteil ansetzen, der nun rechtwinklig zum
alten lag.
Die Römerzeit. Um diese Annahme zu stützen, darf es
uns allerdings nicht verdriessen, in die
früheste Zeit der ehrwürdigen Curia vorzudringen
, und wieder gibt uns davon nicht
verlässigste Kunde, was über dor Erde
blieb, sondern was sie unter dem Wandel
des Tages treu bewahrte. Was sich noch
zu Campells Zeiten am abendlichen Herd
vom Mund der Alten auf die Enkel weitererbte
, das hat seither mancher Spatenstich
wenigstens für die Römerstadt klar erwiesen:
„dass die alte Siedlung weit hinaus gegen
Abend jenseits der Plessur gestanden, wo
dermalen (zu Campells Zeit) die Kirche
St. Salvator zu sehen." Denn was man an
grünpatinierten Kaisermünzen, an Scherben
irdener Weinkrüge oder dieser roten, sattglänzenden
, mit Reliefs von Pflanzenornamenten
und Tierfriesen gezierten „terra sigil-
lata" fand, auch die Bronzefigürchen, die
Sicheln, die ärztlichen Instrumente, die Heizanlagen
, alle diese Reste einer über die
Alpen gebrandeten, vergangenen Kultur, sie
kamen in jenem Teil Churs ans Licht, der,
jenseits der Plessur gelegen, auch heute noch
den beziehungsreichen Namen Welschdörfli
führt. Als systematische Grabungen endlich
die Mauern römischer Häuser und den Unterbau
von Strassen blosslegten, da war die
Annahme gesichert, dass die römische An-
siedlung dort zu suchen sei.
Unter dem Zeichen des Durchzuges, der
Strasse und des Verkehrs stand sie; hier
war die letzte Ruhe vor dem Aufstieg; auch
Sammlung und Labung des durch die
Schrecken der Berge getriebenen Trosses.
Wie in grösserem Maßstab Vindonissa im
nordwestlichen Helvetien, war diese Siedlung
an der Plessur der Knoten wichtigster Linien.
Denn wo der Legionsadler strich, da entstanden
Strassen. Von Chur über den Septimer
führten sie oder den Splügner Berg nach Cla-
venna (Chiavenna), Bregenz mit Como verbindend
, vermutlich aber auch über den Sankt
Bernhardin und den Lukmanier nach Bellenz.
Dass sich die Siedlung in den Schatten des
Pizokel begab, darf nicht verwundern. Denn
der strategische Zweck war oberstes Gesetz.
Der Feind aber war im Norden und die Heimat
im Rücken. Das Gesicht alemannischem
Gebiet zugewendet setzte man sich hinter
dem Flusslauf fest. Die Wacht aber schob
man über diese Barriere vor, jedem Angreifer
in die Flanke auf die Felsnase des
Marsöl. Genau nach dem Prinzip, wie es
Vegetius beschreibt: auf „vorgeschobenem
jähem Punkt, umflutet vom Meer, Sümpfen
oder Flüssen". Hier konnte der Legionär
wie ein Sperber das Rheintal hinauf- und
hinabäugen, beherrschte den Flussübergang
und den Weg zur Lenzerheide. Nicht wie
im Mittelalter begab sich zu diesen Zeiten
die Siedlung ganz in den Schutz der Burg.
Durch Wälle und Palisaden allerdings mag
die Verbindung gesichert gewesen sein.
Zwischen diesen beiden Brennpunkten nun,
dem Lager und der Burg, spielte der Verkehr
: Soldaten, Händler, Werkleute gingen
hin und her, und nichts war natürlicher,
als dass sich hier Verkaufsstellen, Tavernen
und Werkstätten niederliessen, dass nach
und nach die erste Linie einer neuen Niederlassung
sich eingrub. So fand die nach- Die nach-
römische Zeit hier, dem Fluss entlang, dessen römische Ze
Wasser man für die Geschäfte des Hauses
bedurfte, schon die ersten Ansätze einer
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