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hundert auch sprachlich romanisch war,
sondern dass hier durch eine eigentümliche
Konstellation der Geschichte die römische
Tradition niemals abrupt abgeschnitten, niemals
durch eine eigentliche fränkische Eroberung
gebrochen wurde. Sie wurde vielmehr
unmerklich übergeführt in die Ger-
manisierung und blieb als Unterströmung
immer vorhanden. Bei manchen Eigentümlichkeiten
der Bauweise, bei mancher reizvollen
Kreuzung von Eiuflüssen wird später
noch darauf hinzuweisen sein. Die unzerstörbare
Treue zum Überkommenen, die dem
rätischen Volke immer Würde und Kraft
gab, führte hier zu der Erscheinung, auf die
Forscher vielfach hingewiesen: dass sie zwar
später als ihre Nachbarn die römische Kultur
angenommen, sie aber umso zäher bewahrten
(Mommsen), dass auch unter fränkischer
Herrschaft sie lange die alten Traditionen
in Händen behielten und dadurch
zu einem Herd der Kultur für die Schweiz
wurden (Heierli und Öchsli).
Bald nach den Schreckenstagen von 1464
entstanden auch die Häuser der Zünfte,
denen der Kaiser nach der Feuersbrunst
die Verfassung bewilligt hatte. Die Rebleute,
Schmiede und Pfister bauten sich in der
Nähe von St. Nicolai an, die Schumacher
im „süssen Winkel" und die Schneider am
St. Martinsfriedhof beim Spaniöl. Schon 1413
hatte Siegmund den Bürgern ein Kaufhaus
bewilligt; nun erstand es, vom Kaiser neu bestätigt
, in würdigerer Gestalt auf der sagenhaften
Hofstatt der alten Imburg. St. Martin
wuchs auf wie ein junger Wald, und Meister
Steffan Klein knüptte mit erfahrener Hand
die Netze seines Gewölbes. Dies war nun
wie ein Symbol. Denn hier hatten, der Hofkirche
gegenüber, die Bürger ihr geistliches
Zentrum. Der fränkische Schutzheilige, dem
sie es geweiht, stand ihnen als Patron gut
an. Lebt der römische Presbyter Laurentius,
dem die alte Kirche auf dem Hof zugehört
hatte, im Sinn der Gläubigen als verzückter
Märtyrer, der auf dem glühenden Rost in
den geöffneten Himmel sah, so Martin von
Tour recht diesseitig und der nächsten irdischen
Notdurft zugewandt, wie er am Tor
von Amiens mit dem Bettler seinen Mantel
teilt. Ein recht demokratischer Heiliger also
und für eine Bürgerschaft, die im Zusammenhalten
ihre Stärke suchte, ein guter Patron.
Und diese innerste Kraft des Zusammenhalts
hatte damals eine Bewegung fast zu Ende
geführt, an die man sich noch erinnern muss,
will man die plötzlich aufbrechende Blüte
Churs richtig verstehen: die vollständige
Emanzipation der Bürgerschaft vom Bistum.
Diese Stadt war im Gegenspiel zweier Emanzipation
Gewalten der gewinnende Dritte. Im achten vom Bistam-
Jahrhundert noch Inhaber geistlicher und
weltlicher Macht im „halbsouveränen Kirchenstaat
" Currätien, war dem Bischof mit
Einführung der fränkischen Grafschaftsverfassung
unter dem Sohn Karls des Grossen
und der Ausscheidung des Königsgutes der
grösste Teil seiner weltlichen Gewalt entrissen
worden. Auf die Dauer aber konnte
man die Hilfe des Hirtenstabes nicht entbehren
. Die Ottonen, im Kampf gegen die
feudalen Herren darauf bedacht, den Beistand
der Kirchenfürsten zu gewinnen,
mehrten aufs neue dem Bischof die Macht
durch Schenkung und Handel. Zehnten,
Zölle, Geleitsrechte fielen ihm nach und
nach zu: was vordem die königlichen Kammern
und Keller gefüllt, die Abgaben vom
Korn, vom Salz, von der Traube am Hang,
den Fischen im Bach, alles ging nun auf
den Hof, und vor allem hatte der Bischof
wieder die sämtlichen gräflichen Rechte an
der Stadt Chur. Er brauchte nur noch die
Reichsvogtei an sich zu ziehen, um wirklicher
Landesherr zu sein. Chur war nun,
am Ende des 13. Jahrhunderts, eine Bischofsstadt
. In diesem Hin und Her der
Machtverteilung war der rätische Bürger
aber nicht lange mehr nur Objekt. Der ist
immer der stärkste, der klar und eindeutig
von einer beherrschenden Idee besessen ist.
Und welche das in Rätien war, das zu
sagen fand sich früher schon der Ort. Ihrer
Bedeutung als Zünglein an der Wage zwischen
Kaiser und Bischof sich bewusst, verstand
es die Bürgerschaft, in ihrem Kampf
um die Befreiung sich des Kaisers zu bedienen
, wenn es gut schien, auch dem päpstlichen
Bann zu trotzen, die schwache Stelle
des Gegners zu finden, zu schweigen und
zu dulden, für einen Schritt zurück zwei
vorwärts zu tun und nicht wie anderwärts
durch innere Kämpfe sich zu schwächen.
Als der Brand die Stadt verwüstete, da war
die bischöfliche Macht schon so zerbröckelt,
da war Chur im kaiserlichen Schachspiel
XI
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