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die kriegerischen Eroberungen zusammengestürzt
waren, so hatten sich die friedlichen
doch still und unauffällig entwickelt. Die
bescheidenen Pflanzungen der unternehmenden
handwerklichen und kommerziellen
Emigration, die im Ausgang des 18. Jahrhunderts
so rasch sich entfaltete, hatten Samen
und den Erben wieder Früchte getragen.
Aber das gewichtigste Wort sagte doch
wieder die Strasse. War schon 1786 zwischen
der Luziensteig und Chur durch den Bau
einer neuen Fahrstrasse unerträglichen Wegverhältnissen
ein Ende bereitet worden, so
bekam nun Graubünden um 1820 eine neue
grosse Durchgangsstrasse von Chur nach
Chiavenna und Bellinzona, die allen damaligen
Anforderungen genügen konnte. Was
dies für den Transit zwischen Süd und Nord
bedeutete, bedarf kaum der Erwähnung.
Dazu war nun Chur mit der Umgestaltung
der staatsrechtlichen Verhältnisse Kantonshauptstadt
und ständiger Sitz der Regierung
geworden. Der neukonsolidierte Wohlstand
und die gemehrte Würde der Stadt aber
befruchteten noch einmal die Lust am Bauen
und brachten für Chur eine späte Blüte
seiner Architektur. Von dem Quartier von
St. Nicolai, das schon einmal, wie wir sahen,
für die Baugeschichte der Stadt von Bedeutung
gewesen war, ging die neue Bewegung
aus. Nun aber war es nicht mehr
eine geistliche Korporation, die am Stadtbild
arbeitete, sondern die Churer Bürgerschaft
und das rätische Volk, die über der
Hofstatt des Klosters ihre Schulhäuser errichteten
. Ein ganzer Komplex bekam damals
ein anderes Gesicht und Paulus Christ
war der junge Architekt, der diese Umgestaltung
im Sinne der klassizistischen Prinzipien
formte. Es ist kaum zuviel gesagt,
wenn man diesem Mann, der später dann
(von 1814—1818) Stadtbaumeister von Chur
war, das Verdienst zuschreibt, die klassizistische
Baubewegung in seiner Heimatstadt
in Fluss gebracht zu haben.
Umbau von Vom Mitteltrakt der hufeisenförmig gest
. Nicolai. gijedert;en Anlage von St. Nicolai ging der
Umbau aus. Hier, wo am Rand des Klostergartens
die gelehrten Predigermönche im
kühlen Kreuzgang gewandelt waren und
wo nach einem Wort bei der Einweihungsfeier
der Schule seit 500 Jahren „bald in
der Gestalt eines Klosters, bald in der einer
Lehranstalt, der Religion und den Musen"
eine Stätte war, errichtete im Jahr 1809
Christ die evangelische Kantonsschule (später
„altes Seminar"). Mit ihrem Streben nach
klassischen Proportionen, der doppelläufigen
Freitreppe und dem Tympanon über dem
Mittelrisalit wurde sie die rechte Bildungsstätte
einer Zeit, die ihre humanistischen
Ideen an der Antike orientierte. Einige
Jahre später (1812) schloss sich nordwärts
des Hofes, der in seinen ruhigen Maßen
auch heute noch etwas von dem Frieden
des Klostergartens behalten hat, das alte
Stadtschulhaus an und gegen den Kornplatz
zu, dort wo die Klosterkirche gestanden,
entstand die klare Reihe jenes Häusertraktes,
der mit dem Rhythmus seiner Bogenfolge
dem Kornplatz die Melodie gibt.
Wie sehr von hier aus nun diese Baubewegung
weiter wirkte, dafür ist eine
grössere Anzahl von Umbauten dieser Epoche
Zeuge. Am benachbarten Pfisterplatz wurde
das stattliche Kaufhaus „zum Pfisterbrun-
nen" errichtet, Häuser in der Reichsgasse
und am Regierungsplatz entstammen der
gleichen Zeit, und „am Graben" führte der
Gedanke der reihenmässigen Wiederholung,
der Parallelität eines Motiv es, der am Kornplatz
gewirkt hatte, zu der reizvollen Anordnung
von Verkaufsläden, bei denen unkannelierte
Halbsäulen zu Trägern eines
flachen Obergeschosses gemacht wurden.
Wo man nicht zu einer vollständigen Umgestaltung
schreiten konnte, da fügte man
wenigstens neue Türen ein, in edlen Proportionen
, mit sparsamer flacher Steinhauerarbeit
, glänzenden Messingbeschlägen und
einfachen, geradlinigen Oberlichtgittern.
Hauseingängen dieser Art begegnet man
auch heute noch einer überraschend grossen
Anzahl aus dieser Epoche.
Nicht ganz aus eigenem Willen kam Der „Hof.
auch der „Hof" dazu, diese Baubewegimg
mitzumachen. Während nämlich die grossen
Stadtbrände der früheren Jahrhunderte vor
dem Tor des Bischofssitzes Halt gemacht
hatten, suchte im Jahr 1811 das Feuer nun
den Hof heim. Das Domdekanat, das Schulhaus
, Benefiziatenhäuser und Privat Wohnungen
, besonders auch Dach und Turm der
Kathedrale wurden zerstört und das Schloss
nur mit Mühe gerettet. So kam es, dass
auch in die Gestaltung des Hofes diese
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