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Eigenart des
Oberen Bandes.
merte die Täler. Wie Disentis über den Lukmanier
in die Lombardei griff, so auch über
die Oberalp nach Urseren und Uri, wo es
reichen Grundbesitz erwarb. Von dorther, wo
nach der frommen Legende der Stifter Sigisbert
in die „Desertina" gekommen war, holte
sich die Abtei auch des öfteren ihre Häupter,
mit Uri verband sie schon im Beginn des
vierzehnten Jahrhunderts ein Bündnis, das
Peter von Puntaningen, der in Altdorf ein
Haus besass, erneuerte, ja, man kann sagen,
dass die Gravitation des Gotteshauses Disentis
eigentlich fast ebenso nach der Innerschweiz
als nach dem Herzen Currätiens
wirkte. Auch Feindschaften zeigen Verbindungen
. Wenn der mächtigste rätische Dynast
, der Freiherr von Vaz, sich in der erbitterten
zweiten Vazischen Fehde mit den
Waldstätten gegen Disentis, den Bischof und
den rätischen Adel verband, so deutet auch
dies daraufhin, dass gleiche Interessen Anlass
gaben, sich zu reiben. Aus dem Streit aber
wuchs Freundschaft und aus dem Frieden von
Disentis verträgliche Nachbarschaft für alle
Zeiten.
Waren also auch die Fäden gezogen, so
war es doch keineswegs eine Selbstverständlichkeit
, dass das Beispiel der Waldstätte für
die Bünde auch fruchtbar wurde. Dass Truns
zum bündnerischenRütli werden konnte, dazu
war vielmehr eine dem Volke innewohnende,
ganz besonders starke synthetische Kraft
nötig. Denn in manchem Betracht waren hier
die Verhältnisse wesentlich komplizierter als
in den Urkantonen. Es gab in Rätien kaum
ein Gebiet, wo die Rechtszustände so verwickelt
, wo die Herrschaftsbereiche der geistlichen
und weltlichen Dynasten so ineinander
verknäult waren wie im Vorderrheintal.
Der Bundesschwur von Truns war mehr
als eine blosse Kopie des urschweizerischen
Gelöbnisses. Er war zunächst der Beweis, dass
die Idee der Volksherrschaft nicht dem germanischen
Gei§t allein eingänglich war, dass
sie auch auf romanischem Boden Frucht tragen
konnte. Er war aber noch aus einem anderen
Grund von einzigartiger kultureller Bedeutung
. Denn von allem Anfang an bedeutete
der obere Bund eine Verschmelzung zweier
Stämme zu einem staatlichen Gebilde mit
voller Gleichberechtigung der Glieder und
eigenem Recht und Gericht, von allem Anfang
an den friedlichen Vertrag zwischen zwei
Sprachgemeinschaften, der deutschen und der
rätoromanischen, zu denen noch die dritte kam,
als (1480) das Misox dem Bündnis beitrat.
Wenn man aber bedenkt, dass zwei Sprachen
nicht nur zwei verschiedene Verständigungsmittel
sind, sondern auch Gefässe verschiedener
Vorstellungs weiten, so wird man gerade
in diesem Sprachenbund eine kulturelle Leistung
von ganz besonderem Gewicht erkennen
.
Ja der demokratisch verbündende Geist, von
dem die Ligia Grischa getragen war, bewies
solche Kraft, dass er auch die geistliche Gewalt
in sein Magnetfeld zog. Es war für den
Bund eine Gunst der Geschichte, dass zur
entscheidenden Zeit den äbtlichen Stab von
Disentis ein Mann trug, den das Tavetsch
selbst geboren, dass Peter von Puntaningen
nicht von aussen kam, sondern dass er die
Sache seines eigenen Volkes führte, als er die
Abgesandten unter den Ahorn nach Truns
berief. Während Bischof Ziegler von Chur
noch genau 100 Jahre später, zu einer Zeit
also, da der Bundesgedanke schon erstarkt
war, die Unterschrift unter den allgemeinen
Bundesbrief verweigerte, steht zu Häupten
des Trunser Briefes schon Abt Peters Name.
Dieser flüchtige Blick auf die Geschichte
des grauen Bundes führt nicht, wie es vielleicht
scheinen möchte, vom Wege unserer
Betrachtung ab, er kann vielmehr dazu
dienen, gewisse Eigenarten der Bauweise
dieses Landes aus dem zentralen Empfinden
des Volkes zu erklären und zu zeigen, dass es
nur ein Ausdruck einer das Ganze bewegenden
, zusammenfassenden Kraft war, wenn
das Oberländer Haus Formen des germanischen
und romanischen Bauwillens verschmolz
.
Die Mischung der Kulturen war in diesem
Gebiet besonders aufrührend. Hier war altes
romanisches Land, zwar abseits der grossen
Septimerroute, aber immerhin belebt von den
Wegen über die Oberalp ins Innere Helve-
tiens und über den Lukmanier und den
Valserberg nach dem Süden, früh und mit
zäher Gründlichkeit urbarisiert, besonders
auf der sonnigen Terrasse von Sagens und
um Ilanz. Als aber um die Mitte des 6. Jahrhunderts
Rätien an die fränkischen Könige
gefallen war, da wurde gerade das Oberland
der Boden für ihre planmässige Kolonisationspolitik
. Es ist bekannt, dass das Reichs-
Kultur-
strömungen.
VIII
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