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Hält das Haus Casutt (Tafel 34, 38) zwar noch
fest am gewölbten Mittelkorridor in Firstrichtung
, so führt es ihn doch nicht auf die
gewohnte gedrungene Podesttreppe, sondern
auf ein Meisterwerk einer Wendeltreppe, die
sich in zierlicher, gotischer Schraube ohne
Schwere aus der dunklen Höhlung des Korridors
hinaufwindet. Sie dreht sich nicht um
eine Spindel. Sperrstein und Tritt ist aus
einem Stück gearbeitet und so scheint sie frei
im Raum zu hängen und die Gesetze der Tektonik
zu verachten. Das Haus Cangina (Tafel
34, 35, 38),fast zwei Jahrzente früher entstanden
(1560), ist im Grundriss dem rätoromanischen
Schema ebenso entfremdet wie etwa
die ältesten Häuser von Fideris, hat eine steinerne
Wendeltreppe links an den Eingang
gelegt, ordnet die Räume nicht an einen Gang,
sondern an ein „Vorhaus", spart die mit zwei
starken Tonnen überwölbte Küche aus und
orientiert die Stuben nebeneinander gegen
Süden, der Sonne zu. Dass in den Details die
gotischen Formen noch weiterleben bis an
das Ende des 16. Jahrhunderts, dass sich —
wie am Casutt'schen Haus — mit den ge-
fasten, blattverzierten Steingewänden derre-
naissancemässige Zahnschnitt des Sturzes zu
einer Fensterumrahmung verbindet(Haus Casutt
) zeigt das gleiche langsame Versickern
der alten Formen, das wir überall im Land
bemerken konnten. Die Orientierung nach
der Sonne aber, ein Zug, der dem deutschen
Haus besonders eigen ist, hat die „Casa alva"
des Landrichters Johannes Deflorin in Ruis
(die ungefähr ein Jahrhundert nach dem Haus
Cangina entstanden ist) zu einer ganz merkwürdigen
Grundrissgestaltung geführt. Im
Erdgeschoss läuft der Gang von der an die
Nordseite gelegten Türe in der Firstrichtung
durch das Haus und an der Mitte dieser Achse
ist die Treppe angeordnet: es liegt also im
Parterre ein Schema vor, wie es das Clau
Maissen Haus in Somvix bietet und wie es
im innerrätischen Bezirk typisch ist. Im ersten
Obergeschoss aber schwenkt die Achse plötzlich
um, der Korridor legt sich quer zum First
und überlässt so die volle Sonnenseite der
Ausnützung durch Wohnräume. Aber nicht
nur die bestimmte Gebärde, mit der sich das
Haus zu der Quelle der Wärme und des Lichtes
wendet, unterscheidet es deutlich von einem
Engadiner Haus, auch das innere Verhältnis
zur Landschaft. In Zuoz oder Scanfs ist entscheidend
für die Orientierung des Baues
immer die Strasse, der Platz, der Verkehr.
Wir haben gesehen, zu welchen Vorkragungen
, Verschränkungen und Kniffen besonders
in Zuoz die Bauten greifen, um einen
Blick auf den Platz zu erhaschen. Diese mit
ihrem hohen Giebel und dem steilen Dach
ganz dem Oberländer Typus angehörende
„Casa alva" jedoch hat sich, darin dem Landrichter
-Haus in Sarn ähnlich, von dem Zentrum
des dörflichen Lebens deutlich separiert;
sie steht am Rand der Siedelung hoch über
dem Tal, will nicht die Geschäfte der Menschen
betrachten, sondern vertraut sich der
Weite an, dem Raum.
Dieses Haus nun führt uns zeitlich schon Barock.
in den Spannungsbereich jener Bauleidenschaft
, die in der zweiten Hälfte des siebzehnten
Jahrhunderts mit rasch anschwellender
Intensität die bündnerische Nobilität er-
fasste. Wir haben bei der Baugeschichte von
Chur gesehen, von welchen Kräften diese
Bewegung sich nährte. Aus der neu gewonnenen
Ruhe der Heimat zogen die Bündner
Militärs dem von den Kriegen des vierzehnten
Ludwig blutig geröteten Abendhimmel Europas
zu, und wenn wir uns ihre breiten Silhouetten
mächtig und über das Maß des
Tages vergrössert vor diesem feurigen Prospekte
denken, so sehen wir ein Bild ihres
kriegerischen Rufes und ihrer unbeugsamen
Lebenskraft. Die Bauten der Zeit aber sind
die Monumente dieses harten und kraft-
bewussten Geistes.
Die Breite der Baubewegung wurde im Bauwelle
zweiten Band unserer Darstellung abgesteckt, tm 17' Jahr
auch sahen wir uns dort schon zu der Bemerkung
veranlasst, dass sich eine besonders
grosse Anzahl von Bauten bedeutenderen
Ausmaßes gerade in dieser Zeit zusammendrängen
, und zwar nicht nur im
ennetbirgischen Bezirk, sondern auch jenseits
des Albula, wo das Engadiner Haus
seine mächtigste Form ausbildet. Wir haben
daher nur für den Bereich, dem wir
uns hier zuwenden, jenen grossen Umriss
etwas auszufüllen, einzufügen etwa, dass
die Deflorin in Ruis in einundeinhalb Jahrzehnten
damals das obere Haus in Ruis ausbauten
und die „Casa alva" neu errichteten,
die Castelli in Sagens dem alten Jochbergsitz
eine vollkommen neue Gestalt gaben und in
Valendas die Marchion (mit dem unteren
xm
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