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über die völlig neue und fremde Erscheinung
heraus.
Visconti war aufgewachsen in den Museen Roms;
als die Gipfel der antiken Kunst, als ihr wahrster
und vollkommenster Ausdruck galten ihm die berühmtesten
Schaustücke der vatikanischen Museen,
der Apoll, der Laokoon, der Torso im Belvedere.
Als er von Paris nach London reiste, um die
Elginschen Marmore zu sehen, erwartete er in ihnen
dieselbe Formensprache zu finden, wie er sie vom
Apoll, vom Laokoon, vom Torso her so wohl kannte,
aber, da es sich um Skulpturen handelte, die zum
Schmuck der Architektur gedient hatten, eine geringere
Ausführung. Er ist betroffen, sich in beiden
Voraussetzungen getäuscht zu sehen. Die Meisterschaft
war nicht geringer als beim Laokoon, beim
Torso, aber die Natur einfacher und grösser auf-
gefasst. Visconti freute sich, dass auch Ganova in
den Parthenon-Skulpturen die wahre vollkommene
Natur gefunden und weit weniger idealisierende
Manier, als er erwartet hatte. Die grenzenlose
Wahrheit, das pulsierende Leben in so göttlichen
Gestalten vor Augen zu sehen, das war das Wunder,
das die Künstler übermächtig ergriff und das
Dannecker mit den Worten aussprach: „sie sind wie
über die Natur geformt und doch habe ich nie das
Glück gehabt, solche Naturen zu sehen."
Schon Raphael Mengs, der Freund Winckel-
manns und in vielem sein Lehrer, hatte beobachtet,
dass die Gruppe der Niobiden und andere hochgepriesene
antike Werke nur in den späteren Zeiten
des Altertums gearbeitete Wiederholungen älterer,
für uns verlorener Vorbilder seien. In den Parthenon-
Skulpturen hatte man Kunstwerke vor Augen, über
deren Ursprung kein Zweifel möglich war. Sie sind
leibhaftige und klare Zeugnisse der Kunst im Athen
des Perikles. Das machte der erfahrene Visconti
sofort geltend. Zu diesem entscheidenden Vorzug
gesellte sich ein anderer. Seit den Zeiten der
Renaissance war es allgemeine und vor allem
römische Sitte, die antiken Skulpturen nicht so zu
lassen, wie man sie fand. Sie wurden sinnvoll oder
sinnlos und willkürlich ergänzt, geglättet, überarbeitet,
abgearbeitet und entstellt, und damit des Reizes entkleidet
, den die Kopien noch von ihren Vorbildern
her bewahrt hatten. Auch Lord Elgin dachte daran,
seinem kostbaren Besitz noch höheren Wert zu verleihen
, wenn Ganova sich entschlösse, die Ergänzung
vorzunehmen. Es bleibt ein ewiger Ruhmestitel
Ganovas, dass er dies ablehnte. Einen Frevel am
Heiligsten nannte es Canova, wenn er oder ein
anderer es wage, an diese Wunderwerke zu rühren.
Wie viel auch an ihnen durch Zeit und Barbarei
zerstört sei, sie müssten bleiben wie sie seien. Und
in diesem zerstörten, aber echten und unverfälschten
Zustand haben die Parthenon-Skulpturen eine immer
steigende Wirkung ausgeübt; sie haben eine völlige
Wandlung in den Vorstellungen von griechischer
Kunst herbeigeführt.
Die grossen Entdeckungen, die in unserem Jahrhundert
folgten, haben das Bild der Entwickelung
der griechischen Kunst immer reicher und mannig-
Frauengruppe aus dem Ostgiebel des Parthenon.
London, British Museum. Marmor, h. 1.20.
Photographie von Braun, Clement & Cie., Dornach.
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