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Schöpfungen kennen. Dazu muss man sich an die
erhaltenen echten griechischen Werke wenden.
Aber an welche? Wenn es eine einzige und einheitliche
Antike sein soll, von der man lernen
will, so bleibt nur eines übrig: auf den vollen
Reichtum, den die künstlerische Genialität der
Griechen uns im Wechsel der Jahrhunderte gespendet
hat, verzichten — denn auch die vollkommensten
Werke der glücklichsten Epochen geben nur einen
Bruchteil dieser Genialität wieder — und kurz entschlossen
eine einzige klar umschriebene Epoche als
die wahre Antike herauszugreifen.
Vor diese Frage gestellt würden alle die, welche
das Bekanntwerden der Parthenon-Skulpturen selbständig
miterlebten und wie eine neue Offenbarung
empfanden, als die wahre und wirkliche Antike eben
die Parthenon-Skulpturen bezeichnet haben. Goethe
sprach damals den — übrigens wenig befolgten —
Wunsch aus, jeder deutsche Bildhauer möge alles,
was ihm von eigenem Vermögen zu Gebote steht,
oder was ihm durch Freunde, Gönner, sonstige Zufälligkeiten
zu teil wird, darauf verwenden, dass er
eine Reise nach England mache und daselbst so
lange als möglich verweile. „Daselbst studiere er vor
allen Dingen auf das fleissigste den geringsten
Ueberrest des Parthenons und des phigalischen
Tempels; auch der kleinste, ja beschädigte Teil wird
ihm Belehrung geben." „Welch ein lebender Meister
dem Künstler beschieden ist, hängt nicht von ihm
ab; was er aber für Muster aus der Vergangenheit
sich wählen will, das ist seine Sache, sobald er zur
Erkenntnis kommt, und da wähle er nur immer
das Höchste; denn er hat alsdann einen Mafsstab,
wie schätzenswert er noch immer sei, wenn er auch
hinter jenem zurückbleibt. Wer unvollkommene
Muster nachahmt, schädigt sich selbst; er will sie nicht
übertreffen, sondern hinter ihnen zurückbleiben."
Die mitunter versuchte Nachahmung dieser
Skulpturen hat so wenig wie die Nachahmung
anderer grosser Kunstwerke zu wirklich hohen und
bleibenden Leistungen geführt. Aber ihre Kenntnis
hat die Forderungen an die künstlerische Gewissenhaftigkeit
, an die ehrliche und enthusiastische Versenkung
in die Natur, die im akademischen Kunstbetrieb
verloren waren, wieder wachgerufen und
gesteigert. Einer der englischen Künstler, die am
frühesten den vollen Wert der Parthenon-Skulpturen
erkannten, war der Maler Haydon. Das erste, worauf
sein Blick fiel, war der rechte Unterarm der sogenannten
Persephone aus dem Ostgiebel. Er war
wie überwältigt von dem Anblick und er ruft aus:
„Hätte ich nichts weiter gesehen, ich würde genug
geschaut haben, um mich für mein ganzes ferneres
Leben an die Natur zu halten."
R. Kekule von Stradonitz.
Pferdekopf vom Gespann der Selene aus dem Ostgiebel des Panhenon.
London, British Museum. Marmor, h. o.55.
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