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deutsch. Maria betet das vor ihr liegende schlafende
Christuskind an. Sie beugt sich schräg aus der
Bildfläche heraus dem Beschauer entgegen. Eine
kühne, aufregende Anordnung. Das sehr hässliche
Kind ist ein höchst merkwürdiges Erzeugnis der
voraussetzungslos und mit heiligem Eifer getriebenen
Naturbeobachtung. Der altniederländische Naturalismus
scheint nur dem Einzelnen der Natur ganz
unbefangen gegenüberzustehen, über dem Ganzen
scheint während des 15. Jahrhunderts ein bindender
Zwang zu dauern. Befreit von diesem letzten Zwange
zeigt der junge Dürer sich einmal oder einige Male,
freilich nicht nur durch sich selbst befreit.
Im Ferneren verfolgte der Meister den einsamen
Weg nicht, den er eingeschlagen hatte. Namentlich
beim Malen suchte er hie und da einen festen Halt
an fremder Kunst. Das reine Gepräge seiner Persönlichkeit
hat er dem deutschen Altarbilde nicht gegeben.
Als Maler gefühlt und als Maler glücklich gefühlt
hat sich Dürer noch am ehesten in der Periode
von 1506 etwa bis 1511. Die Anregungen, die er in der
Stadt der Maler, in Venedig, empfangen hatte, wirkten
nach. Aber was Dürer von der venezianischen
Hochrenaissance annahm, war am Ende nur Aeusser-
liches, das er mit dem Wesen seiner Kunst nicht
zu verschmelzen vermochte.
Mantegna hatte ihn erschüttert und befreit;
Bellini war ihm im Grunde unverständlich und deshalb
ein nicht ungefährliches Muster. Auf die Gesamtfärbung
seiner Altartafeln hat der venezianische
Kolorismus keine erhebliche Wirkung gehabt. Redlich
und mit Erfolg aber hat der deutsche Meister
sich gemüht, von der volleren, mehr gerundeten
Formensprache der Venezianer zu lernen und von
der Grösse, der Ruhe und dem Gleichgewicht ihrer
Altarbilder. Sowohl in Venedig — 1506 — wie in
den Niederlanden — 1520 —, wo ihm die romani-
sierende Absichtlichkeit entgegentrat, hat er Härten
und Schärfen der fränkischen Art abgeschliffen. Die
Berührung mit einer fremdartigen Kunst brachte
ihn auch wohl einmal dazu, ein Werk zu schaffen,
in dem die Absicht so gefährlich hervorsticht, wie
in dem jetzt zu Rom bewahrten Gemälde, Christus
als Knabe zwischen den Schriftgelehrten.
Von dem Hellerschen Altar kennen wir nur
die wohlüberlegte Komposition. Das Originalgemälde
ist verbrannt; sehr viele besonders sorgsam
ausgeführte Studien dazu und eine Kopie danach
sind erhalten. Das 1511 für den Nürnberger Bürger
Landauer ausgeführte sogenannte Allerheiligenbild
, in dem eine grosse Zahl von Gestalten mit
symmetrischer Anordnung glücklich zusammengehalten
wird, hängt jetzt in der Wiener Galerie.
Das„Rosenkranzbild", ein Auftrag der deutschen Kaufleute
in Venedig, der Dürer während seines Aufenthaltes
in der Lagunenstadt hauptsächlich beschäftigte,
ja vielleicht dorthin gerufen hatte, wird in Prag
aufbewahrt, halb ruiniert durch eine schlimme
Restaurierung, wenn auch nicht so ganz verdorben,
wie gewöhnlich gesagt wird. Dieses Altarblatt,
unter Dürers Bildern am meisten ein Bild, entstand
in jener glücklichen Stimmung, von der die venezianischen
Briefe voll sind und hat wirklich
ein wenig Teil an der festlich ruhigen Fülle des
venezianischen Renaissancelebens. Ganz im Geiste
und in den Formen dieses uns leider doch halb verlorenen
Gemäldes erscheint die gleichzeitig entstandene
Madonna mit dem Zeisig in der Berliner
Galerie (vgl. Bd. I Tf. 81).
Dürers Anschauung ging nicht von dem Ganzen
des Gemäldes aus, oder verlor doch das Ganze
aus dem Auge während der genauen Naturstudien
zu den einzelnen Teilen. Seine Bilder erscheinen
zusammengesetzt. Die Nähte bleiben sichtbar. Das
figurenreiche Altarbild war eine Aufgabe, die dem
gewissenhaften und nachdenklichen Meister nicht
leicht und nicht rasch genug gelang, als dass er sich
die Einheit der Empfindung, die allein die Einheitlichkeit
des Eindrucks verbürgt, vom ersten Ansatz bis
zum letzten Striche zu erhalten vermocht hätte. Seine
Maltechnik war überdies rückständig im Verhältnis
zu der höchst eindringlichen Naturbeobachtung.
Ungemein bezeichnend für Dürers Verhältnis
zur Altarmalerei sind die Arbeiten in den zwanziger
Jahren des 16. Jahrhunderts, in welcher Zeit ihn
vielfach Entwürfe zu Altargemälden grossen Stiles
beschäftigt haben, in welcher Zeit er auch herrliche
Naturstudien in der Absicht auf solche Unternehmungen
ausgeführt hat. Nicht allein die politischen
, sozialen und kirchlichen Umstände traten
den grossen Plänen entgegen, verhinderten die Ausführung
der Altartafeln, sondern ebenso sehr die
Art des Meisters, sein Künstlergewissen. Ein
einziges Werk wuchs heraus aus unendlichen
Bemühungen, Versuchen und Entwürfen — die viel
gepriesenen Apostel, die jetzt in München stehen
(vgl. Tf. 12. 13.). Und die tiefe Wirkung, die von
den Gestalten dieser Glaubenshelden kommt, ist eine
solche, wie sie sonst von den Schöpfungen der
hohen Skulptur ausgeht.
Max J. Friedländer.
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