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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_01/0036
den Dorn in den Fuss getreten und trotz dieses Nachteils
den Sieg über seine Genossen errungen. An
dieses besondere Vorkommnis erinnert die den Sieg
verherrlichende Statue, statt, wie dies sonst bei Siegerstatuen
gewöhnlich geschah, den Sieger in der Uebung
des Wettkampfes selbst oder mit den Siegeszeichen
geschmückt ruhig dastehend darzustellen. Dieser Vermutung
Viscontis sind andere Versuche gefolgt, einen
besonderen Anlass für das Motiv der Statue auszudenken
. Vielleicht sei es ein Knabe, der beim Dienst
im Tempel einer Gottheit sich den Fuss verletzt habe;
vielleicht liege eine mythische Ueberlieferung, etwa
eine Stadtgründungssage, zu
Grunde, bei der die Verletzung
durch den Dorn bedeutungsvoll
war, und man
könnte wohl noch mehr
mythologische Deutungen
vorbringen.

Warum hat man sich
nicht genügen lassen, nichts
anderes in dem Dornaus-
zieher zu sehen, als das,
was das nächstliegende und
selbstverständliche scheint,
eine Figur ohne Namen und
tieferen Sinn, die nur um
des reizvollen künstlerischen
Motivs willen entstanden ist?

Die Frage ist nicht ganz
so einfach, wie sie auf den
ersten Blick scheint. Sie
hängt zusammen mit der
kunstgeschichtlichen Bestimmung
des Werkes, welche
viele Mühe gemacht hat und
noch immer bestritten wird.
Man hat den Dornauszieher
dem fünften, dem vierten,
dem dritten, dem zweiten,
dem ersten Jahrhundert vor
Chr. zugeschrieben. Es fehlte
eben lange an wirklich deutlichen
Analogien mit anderen zeitlich sicher bestimmten
antiken Skulpturen. Die deutschen Funde in Olympia
haben gelehrt, dass die Forscher, welche die berühmte
Bronzefigur dem fünften Jahrhundert vor Chr. zuteilten,
im Rechte waren. Der Dornauszieher ist feiner und
strenger als die Statuen aus den Giebeln des olympischen
Zeustempels, aber die Verwandtschaft ist offenkundig
, in der Gesamtauffassung des Motivs am meisten
mit einigen Statuen aus dem Ostgiebel, in dem Typus
des Kopfes mit der Mittelfigur des Westgiebels. Gerade
die älteren griechischen Künstler haben Szenen des
täglichen Lebens so glücklich beobachtet und so lebens-

Dornauszieher.

Marmorstatue aus hellenistischer Zeit, h. 0.63.

London, British Museum.
Nach einer Zeichnung von Adolf Menzel-

voll und so gerne wiedergegeben — das lehren z. B.
die Vasengemälde; aber man glaubt das, was wir heute
Genre nennen, der grossen plastischen Kunst der
älteren Zeit, wenigstens für selbständige Einzelwerke,
absprechen zu müssen, da Idyll und Genre erst dem
späteren Griechentum eigen seien. Die bequemen
Formeln, mit denen die moderne Aesthetik und die
moderne Kunstgeschichte zu wirtschaften pflegen,
passten selten auf den lebendigen Leib der antiken
Kunst, am wenigsten auf die altgriechische; so auch
nicht der schwankende Begriff des Genre, der sich
gegenständlich nicht begrenzen lässt. Jedenfalls dürfen

wir uns durch solcherlei
theoretische Bedenken in der
Zeitbestimmung des Dorn-
ausziehers, die stilistisch klar
gegeben ist, nicht irre machen
lassen, sondern ruhig abwarten
, ob sich noch andere
gegenständlich verwandte altertümliche
Statuen finden,
oder ob etwa ein glücklicher
Zufall den Zusammenhang
und Zweck, der zur Erfindung
Anlass gab, aufhellt.

Der Dornauszieher trägt
die Kennzeichen der altertümlichen
griechischen Kunst
und die Kennzeichen hoher
künstlerischer Meisterschaft
an sich. Auf einen Feldstein
hat sich ein schlanker Knabe
genau so hingesetzt, wie es
ihm am bequemsten ist, um
den Fuss vom Dorn zu befreien
, und er sieht, indem
er sein altertümlich streng
geformtes, verschlossenes
Kindergesicht vorneigt, mit
der gespanntesten Aufmerksamkeit
auf die schmerzende
Stelle und auf die Finger,
mit denen er den Dorn fasst.
Nur darauf ist all sein Sinnen und Denken gerichtet.
Nichts anderes hat der Künstler erstrebt, als die Bewegung
und Haltung, die dieser augenblicklichen
Tätigkeit natürlich sind, wahr und lebensvoll wiederzugeben
. Es gibt kaum eine andere Statue, die von
Pose, von berechnender Rücksicht auf den Beschauer
so weit entfernt ist. Diderot hat in seinem Versuch
über die Malerei die Sätze: Je ne saurais m'empecher
de croire qu'en sculpture une sculpture, qui fait bien
ce qu'elle fait, ne fasse bien ce qu'elle fait, et par
consequent ne soit belle de tous cötes. La vouloir
egalement belle de tous cötes, c'est une sottise.


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