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rücken dürfe, wird sich nicht bestimmt sagen lassen,
so lange zwingende und auch für die Einzelheiten
ausreichende Vergleiche fehlen. Vermutlich wird diese
Neuschöpfung dem dritten Jahrhundert vor Chr. angehören
.
Wie im Altertum, so hat man in den Zeiten der
Renaissance den Dornauszieher teils so genau nachgebildet
, als es damals überhaupt üblich war treu nachzubilden
, teils auch kühn und frei umgestaltet. Die
in allem Wesentlichen treue Nachbildung, aber in der
reizvollen Formensprache der
Paduaner Schule, zeigen einige
kleine Bronzefiguren (S. Abb.
S. 27), die kühne, derb zufassende
Umbildung eine Ter-
racottastatuette im Berliner
Museum (S. Abb. S. 28), welche
in dem von Bode und Tschudi
verfassten Verzeichnis als charakteristisch
für die Freiheit,
mit der die Nachfolger Donatellos
antike Motive umgestalteten
, angeführt und mit
den folgenden Worten genau
beschrieben ist: „Auf einem
Baumstrunk sitzt ein Knabe
mit einem zerfetzten, durch
einen Gürtel aufgerafften Hemde
bekleidet. Am linken Bein
trägt er eine Strumpfhose, die,
wie der Schuh, stark durchlöchert
ist. Schuh und Strumpf
des übergeschlagenen rechten
Beines liegen am Boden, daneben
ein Wanderstab, ein
Proviantsack und eine Kürbisflasche. Mit Hilfe eines
Messers, das er einer an seiner rechten Seite hängenden
Lederscheide entnommen, sucht er den Dorn aus
dem aufgestützten Fuss zu entfernen."
Mit welch' grimmiger Freude an der natürlichen
Hässlichkeit des bäurischen Knaben hat hier der Paduaner
Meister das antike Motiv umgeschaffen! Wie
weit entfernt sich seine Forderung der Wahrheit von
der doch auch wahren vornehmen Erscheinung der
hellenistischen Umbildung, die uns in dem antiken
Marmor vorliegt; wie weit auch von dem Versuch einer
Paduanischer Meister um 1480
Dornauszieher. Thon, h. 0.39.
Berlin, Kgl. Museum.
Benutzung der kapitolinischen Bronze, den, als erster
unter den Meistern der Renaissance, Brunellesco gegeben
hat! Der gewaltige Genosse Donatellos hat in
dem Bronzerelief des Isaakopfers, das er im Wettstreit
mit Ghiberti schuf (S. Abb. S. 25), den Dornauszieher,
ihn umgestaltend, für den einen der dienenden Knaben
verwendet. Während Ghiberti durch seine anmutige
andeutende Darstellung die Beschauer an das ihnen
allen so wohl bekannte wunderbare Ereignis mehr erinnert
, als dass er es ihnen wirklich und glaubhaft vor
Augen stellt, ist Brunellescos
Erfindung erfüllt von Wahrheit
und dramatischem Leben, wie
durchweht von dem Sturme
und der entsetzlichen Gefahr
des Moments. Alle Gestalten,
auch die unbeteiligten Nebenfiguren
und die Tiere tragen
den echten Stempel des Bru-
nellescoschen Geistes, und
gewiss trägt diesen Stempel
auch der sitzende Knabe zur
Linken des Beschauers. Aber
in minderem Grade als die
übrigen Gestalten. Seine Bewegung
ist nicht frisch und
zum erstenmale von Brunellesco
erfunden, sondern er
hat in dieser Figur das antike
Motiv des kapitolinischen
Dornausziehers, bewundernd
und der griechischen Kunst
huldigend, wiederholt.
Der Wettbewerb für die
Türen von S. Giovanni wurde
1401 bestimmt, im Jahr darauf entschieden.
Erst als der Sieg Ghiberti zugefallen war, trat
Brunellesco mit Donatello gemeinsam die berühmte
Reise nach Rom an. Er hat also schon vorher den
Dornauszieher gekannt, entweder durch einen früheren
Aufenthalt in Rom, von dem die Ueberlieferung
schweigt, oder mittelbar durch irgendwelche Nachbildung
, durch die der kapitolinische Dornauszieher
schon damals in den Künstlerkreisen von Florenz bekannt
und beliebt war.
R. Kekule von Stradonitz.
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