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dem Problem der Durchbildung der Einzelgestalt
nicht so energisch nachgegangen; im Bauganzen des
gotischen Stiles spielt die Statue zwar eine hervorragende
Rolle, ihre Composition bleibt aber baulichen
und technischen Forderungen unterworfen.
Die Renaissance übernimmt diese Vorliebe für die
Einzelgestalt, ohne zu einer der Antike gleichwertigen
Lösung durchzudringen. Der Bronzedavid
Donatellos ist eine der Art des Praxiteles
nachstrebende Schöpfung, die in der Wirkung
durch den der Darstellung zu Grunde liegenden
und des Adels entbehrenden Mythus abgeschwächt
wird.
Die christliche Kunst, deren Schwergewicht im
Gegensatz zur Antike auf dem Gebiete der Malerei
liegt, hat in erster Linie eine andere Aufgabe zu
lösen gesucht, die Composition der Gruppe. Nachdem
Giotto und die Frührenaissance vorgearbeitet
hatten, schufen Leonardo und der junge Michelangelo
die endgültigen Gesetze dafür. Diese laufen
im Wesentlichen auf einen statischen Aufbau und
das Zurückführen der Linienzüge auf das geringste
Ausmass an Gegensätzen hinaus. Raffael hat
einen guten Teil seines Lebens an die Erzielung
einer im Aufbau der Gruppe, in der räumlichen
Anordnung und der Verteilung von Licht und
Schatten vollendeten Composition gesetzt. Seine
Grablegung hat durch übereifriges Ringen nach
einem geordneten Gruppenbau etwas Akademisches
bekommen, in der Sixtinischen Madonna steht das
Unerreichbare in feinfühliger Anwendung aller Gesetze
vor uns.
Während die erste Blüte, die der aufsteigenden
Entwicklung, welche wir gewöhnlich Renaissance
nennen, ihre Probleme am ruhigen menschlichen
Körper zu lösen sucht, verlangt die mit ihr
Rücken an Rücken stehende zweite Blüte, die der
absteigenden Entwicklung, welche wir gewöhnlich
Barock nennen, Bewegung, zuerst mit selbst-
bewusster Strenge, dann Bewegung um jeden
Preis. Der reife Michelangelo und Bernini com-
ponieren ganz anders als die Renaissance, der
Laokoon und die pergamenischen Skulpturen zeigen
eine ganz andere Art als Werke des Phidias und
Praxiteles. In ihnen handelt es sich nicht um Einklang
, sondern um Gegensätze, nicht um sicheres
Stehen, sondern um kühnes sich Behaupten, imposante
und dramatisch belebte Wirkung bildet
das Ziel des schaffenden Künstlers. Im Gegensatz
zur Lot- und Wagrechten, den Axen der Renaissancecomposition
, schlägt jetzt die Diagonale durch. Man
sehe darauf hin Bilder wie Tizians Madonna des
Hauses Pesaro oder Rembrandts Anatomie und seine
Nachtwache an.
Auf der Höhe des Barock tritt der Verfall ein,
auch in der Composition. Die grosse Mannigfaltigkeit
der Ausdrucksmittel, die virtuose Beherrschung
der Technik, die wachsende Masse der Aufträge
verführen die Künstler dazu, dass sie die
wesentliche Vorbedingung einer klaren Composition,
die Auswahl des Notwendigen, ausser Acht lassen
und nebensächliche Motive um des malerischen
Reizes willen in den Vordergrund stellen. Deutliche
Anzeichen dieser Art treten schon in Raffaels
Brand des Borgo hervor, Correggio lässt sich in
seinen Kuppelmalereien und dann auch in seinen
Tafelgemälden ganz gehen, und bei Tintoretto, Paolo
Veronese und Rubens überwuchern die das Auge
bestechenden Nebendinge die Hauptsache bisweilen so
sehr, dass wir Mühe haben zu erkennen, um was
es sich eigentlich handelt. Das Rococo componiert
schliesslich nach rein dekorativen Gesichtspunkten.
Die moderne Kunst will von Composition überhaupt
nichts wissen. Nachdem die erste Hälfte des
Jahrhunderts um ihretwillen, in Deutschland wenigstens
, alle technische Überlieferung missachtet hatte
und zur reinen Kartonmalerei geworden war, erstand
in unseren Tagen eine Bewegung, die im entgegengesetzten
Extrem ihr Fahrwasser erblickt.
Das Steuer in dieser Strömung bildet die Landschaft
. Führt das Studium der menschlichen Gestalt
zum Streben nach einer geordneten Composition
, so verwirft der echte Landschafter natur-
gemäss alles, was darauf abzielt; denn die
Landschaft baut der Zufall auf, in ihr herrscht die
malerische Willkür. Will man ihr gerecht werden,
so hat man nicht zu componieren, sondern ihr
gegenüber seinen Standpunkt zu wählen und das
Bild im Räume zu begrenzen. Nicht die einzelne
Form ist massgebend, sondern die Gesamterscheinung
in Licht und Farbe. Aus dieser Erkenntnis sind
die modernen auf Pleinair, Impressionismus und
die Composition stimmungsvoller Farbentöne losgehenden
Richtungen entstanden. Sie werden erst
dann einseitig, wenn sie die menschliche Gestalt
nach denselben Gesichtspunkten behandeln. Böcklin
hat sich eine eigene Gattung von menschlichen
Gebilden erschaffen müssen.
Wie man als Figurenmaler ohne Composition
auskommen kann, hat Menzel gezeigt. In seinem
Krönungsbilde ist bis auf die Figuren des Vordergrundes
nichts componiert, es kam eben darauf an,
wie er bei der Ceremonie selbst seinen Standpunkt
wählte. Puvis de Chavannes componiert; er ist
einer der wenigen Modernen, der empfindet, dass
Composition, d. h. einfache und klare Anordnung
des als notwendig Ausgewählten, für jede Kunst,
die monumental wirken will, unerlässlich ist.
Josef Strzygowski.
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