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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_01/0068
stempelte, und dass sich für einzelne Figuren die
antiken Muster noch heute in dem Denkmälervorrat
von Pisa nachweisen lassen. Da aber erst die Forschungen
der neuesten Zeit begonnen haben, uns
die Geschichte der Kunst im romanischen Zeitalter
wahrhaft zu erschliessen, erschien dieses Antikisieren
bis vor kurzem als etwas Neues und
Wunderbares, wofür zunächst die Erklärung fehlte.
Man nahm daher, gestützt auf die missverständliche
Auffassung eines Ortsnamens, an, dass Niccolö
aus Apulien stammte, in dessen plastischer Eigenart
man fälschlich besonders starke antikisierende
Elemente vermutete. Jetzt wissen wir, dass Niccolö
allein in Pisa seine Schule genossen haben kann,
da gerade dort in Architektur und Plastik das
Antikisieren seit dem Beginn des zweiten Jahrtausends
hergebracht war und sei es auch nur im
Zurückgreifen auf die antike Form in altchristlichen
oder frühbyzantinischen Werken, und da ihn
auch ein gewisses etruskisches Element in seiner
Kunst nach Toskana verweist. Aber nicht nur für
Pisa, sondern für ganz Italien, ja für die ganze
europäische Kunstwelt war das Antikisieren nichts
Neues. In meinem ersten Bande der Allgemeinen
Kunstgeschichte habe ich nachgewiesen, dass neben
dem vielen Neuen, welches die Künstler von der altchristlichen
Zeit an bis zum Schluss der romanischen
Epoche geschaffen, ihr Blick doch in allen Künsten
beständig rückwärts gewandt war, sei es, dass sie
sich in der Form an die römische Spätantike, an
die altchristliche oder an die byzantinische Kunst
anlehnten, die alle drei von demselben künstlerischen
Prinzip beseelt und deren eine aus der anderen
hervorgegangen war. Dabei war meistens das Auge
der Künstler so ungeübt, dass sie die Güte der
Vorbilder nicht zu unterscheiden vermochten. Das
Jahrhundert aber, in dessen zweiter Hälfte Niccolö
Pisano auftrat, hatte in ganz Italien schon damit
begonnen, dass man den höheren Wert der eigentlichen
Antike erkannte und sie zum Muster nahm;
bis zu welch hohem Grade man sich in dekorativen
Werken antikes Kunstgefühl anzueignen vermochte,
das zeigen die Arbeiten der Cosmaten in Rom.
Das Neue bei dem Pisaner Niccolö ist also nicht
das Antikisieren an und für sich, sondern die glückliche
Höhe, welche er dabei in plastisch-figürlicher
Darstellung erreicht. Somit sind wir zu der Ueber-
zeugung gelangt, dass Niccolö nicht ein Bahnbrecher
ist, sondern ein Vollender, welcher das höchste Ideal
eines ganzen Zeitalters an seinem Schluss verkörpert.
Jetzt erscheint uns das plötzliche Abbrechen der Entwicklung
dicht hinter ihm nicht mehr wunderbar,
sondern ganz erklärlich.

Welches sind nun die Veränderungen, welche
Giovanni Pisano heraufführte, und worin besteht

der wesentlichste Gegensatz zwischen ihm und seinem
Vater? Die Arbeit dieses letzteren war für den Sohn
keineswegs verloren, vielmehr hat Giovanni von
seinem Vater gelernt, den Marmor technisch zu beherrschen
und den Sinn für edle Form von ihm
überkommen. Aber wie die gothische Baukunst
die romanische Kirche auflöste in ein konstruktives
Gerüst, und alles Körperliche und Erdenschwere in
Geist verflüchtigte, so machte Giovanni Pisano aus
dem menschlichen Körper ein bewegliches Gerüst,
dessen Hauptzweck der Ausdruck von Geist und
Seele wurde. Wenn der Künstler darin Erfolg
haben wollte, so musste er vor allem eins sein:
eine Persönlichkeit; oder richtiger umgekehrt: da
Giovanni eine Persönlichkeit und zwar von unwiderstehlichem
Temperament war, so wurde er zu
dieser Auffassung gedrängt. Wie unpersönlich war
das ganze romanische Zeitalter gewesen! Die am
wenigsten persönliche Kunst, die Architektur, hatte
weitaus die erste Stelle eingenommen, Maler und
Bildhauer haschten durch alle Jahrhunderte ängstlich
nach Bruchstücken von der Form früherer,
besserer Kunstzeiten und wagten nur selten Eigenes
zu erfinden. Die Komposition, die Auffassung der
Scenen, die einzelnen Figuren waren hergebracht
und typisch. Die Kirche hatte mit erstarrendem
Druck auf den Gemütern gelastet und die Menschen
zum Festhalten an der Tradition, zur Gleichmässig-
keit in Empfinden und Denken gezwungen. Niccolö
Pisano machte noch keine Ausnahme davon, in
keiner seiner Figuren begegnen wir einer Individualität
; die antike Form wird für den ganz
anderen christlichen Inhalt unverändert benutzt.
Dass Niccolö tiefes seelisches Empfinden besass,
zeigt seine Kreuzabnahme über dem linken Seitenportal
in der Fassade von S. Martino zu Lucca;
wie wenig er aber eine Persönlichkeit sein wollte,
das beweist die starke Inanspruchnahme und das
freie Gewährenlassen von Gehilfen schon bei seinem
zweiten grossen Werk, der Domkanzel von Siena.
In Giovanni dagegen bricht zum erstenmal der befreite
Mensch hervor; jubelvoll, in frischer, stürmischer
Jugendkraft tritt er auf.

Reiche Gedanken finden sich schon in der Auswahl
des plastischen Schmuckes für die Kanzel
Niccolös in Pisa. Fassen wir nur die oberen
Teile ins Auge. In den fünf Reliefs der Brüstung
werden die Hauptmomente aus dem Leben des Erlösers
von seiner Geburt bis zu seiner Wiederkunft
als Weltenrichter erzählt. In den Zwickeln der
Rundbögen darunter weisen Propheten und die vier
Evangelisten auf das Erlösungswerk hin, während
dazwischen über den Kapitellen die Gestalten der
christlichen Tugenden stehen. Wie allgemein, wie
unindividuell erscheinen diese Gedanken gegenüber


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