http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_01/0069
Giovanni Pisano.
Vom Holzcrucifix in S. Andrea
zu Pistoja.
denen an dem Hauptwerk Giovannis, der Kanzel
in S. Andrea zu Pistoja, welche in der ganzen
Komposition so viel äusserliche Aehnlichkeit mit
jenem Kanzelwerk des Niccolö hat. Bezeichnend
sind schon die Veränderungen in den Gegenständen
der Brüstungsreliefs, die doch meistens dieselben
geblieben sind. Statt der Darstellung im Tempel,
welche nicht über ein langweiliges Ceremomenbild
hinausgehen konnte, setzte Giovanni die wilde und
dramatische Scene des Kindermordes ein, die schon
an der Sieneser Kanzel vorkommt. Auch die Anbetung
der Könige war ihm allein nicht interessant
genug, daher fügte er auf demselben Feld die Berufung
der schlafenden Könige durch den Engel
hinzu und den Traum des Joseph, in welchem der
Engel ihn zur Flucht nach Aegypten auffordert.
Durch die letztere Scene verband er dieses Feld
sehr geschickt mit dem Gegenstand des folgenden,
dem Kindermord, welchem das Christuskind infolge
jenes Traumes entgeht. Von wie ganz anderer Bedeutung
sind hier auch die Figuren an den Eckpfeilern
zwischen den Reliefs als in Siena, wo sie
ebenfalls schon vorkommen, aber meist keine nähere
Beziehung zum Inhalt der Reliefs haben. Bei
Giovanni in Pistoja bewacht ein junger Priester
als Vertreter der Kirche neben der Treppe den Eingang
zur Kanzel. Zwischen Geburt und Anbetung
der Könige wird durch die Wurzel Jesse auf die
königliche Abstammung des Christuskindes hinge-
- 59 -
wiesen. Die vier Evangelistensymbole an der vorderen
Kanzelecke sind hergebracht, aber Giovannis
Persönlichkeit spricht sich in der Auffassung des
herrlich bewegten, mit dem vollen Blick der Erkenntnis
zum Himmel aufschauenden Matthäusengels
aus. An den anderen Pfeilern stehen kräftige Vertreter
des Glaubens; an dem letzten, neben dem
jüngsten Gericht, blasen Engel zur Auferstehung. —
Während so die Balustrade der Kanzel dem Neuen
Testament gewidmet ist, weist ihr Unterbau, d. h.
das Zwischenglied zwischen jener .und den Kapitellen
der Säulen, auf die vorchristliche Zeit als die Vorbereitung
zur Erlösung hin. Da sitzen an den
Ecken über den Kapitellen die Sibyllen, während in
den Zwickeln der dazwischenliegenden Spitzbogen
Propheten angebracht sind; also Heidentum und
Judentum sind vertreten. Hier bei Giovanni klare
und deutliche Scheidung, bei Niccolö an den Kanzeln
zu Pisa und Siena unklares Hinabgreifen des Themas
der Brüstung auf das Zwischenglied über den
Kapitellen durch die Gestalten der Tugenden. Jeder
Sibylle Giovannis ist ein Engel beigegeben, der zu
ihr spricht und sie über das kommende Heil belehrt.
Unvergleichlich schön ist in den Prophetinnen die
Wirkung dieser göttlichen Verkündigung in steter
Steigerung von der ersten Aufnahme bis zur vollen
Erkenntnis dargestellt. Die erste Sibylle unter dem
Relief mit der Geburt Christi wird von dem Engel
aus dunklem, unfruchtbarem Brüten aufgeweckt,
noch liegt der volle Schmerz über die Unzulänglichkeit
aller heidnischen Philosophie auf ihrem Antlitz.
Die zweite zeigt sich zur Aufnahme der Heilswahrheit
schon mehr bereit; in jähem Staunen wirft
sie den Kopf nach dem Engel zurück. In der
dritten hat sich der erste Seelensturm über die
Mitteilung beschwichtigt, sie neigt den Kopf leise
nach dem Engel hin und lauscht aufmerksam seinen
Worten. Die vierte beginnt bereits demütig das
Haupt zu neigen vor der nahenden Gottheit, deren
Erkenntnis ihr immer mehr aufgeht. Die fünfte hat
Gott schon soweit erkannt, dass sie in Anbetung
die Arme über der Brust kreuzt und sich verneigt,
während der Engel nach vollendetem Auftrag sich
zum Wegfliegen wendet. Die sechste endlich ist
von wahrhaft himmlischer Freude über die Heilsbotschaft
, die innerlich schon ganz ihr eigen
geworden ist, durchdrungen, mit seligem Lächeln
legt sie die Hand auf die Brust und schaut nach
dem Engel hin, der vor der im Geist gegenwärtigen
Gottheit die Arme anbetend kreuzt. Welcher Fortschritt
ist diese Reihe individueller Gestalten gegen
die unpersönlichen Tugenden an derselben Stelle
der Kanzeln von Pisa und Siena! — Aber noch
immer nicht war es dem Künstler genug der
Gedanken und der dramatischen Beziehungen; auch
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_01/0069