http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_02/0033
Das deutsche Porträt bis auf Holbein und Dürer.
JEDER Kunstgenuss ist zunächst
ästhetisch. Mit vollstem und
unmittelbarstem Verständnis ästhetisch
geniesst man aber doch nur
die Kunstwerke, welche die Gegenwart
bietet. Denn für diesen Ge-
nuss ist die Fähigkeit Vorbedingung
, sich ganz in die allgemeinen
seelischen Voraussetzungen des
Kunstwerks in jeder Richtung hin
versetzen zu können, und diese
Vorbedingung erfüllen wir ohne
weiteres eben nur für die Gegenwart
. Wollen wir ihr für vergangene
Zeitalter und deren Kunstwerke
gerecht werden, so bedarf
es erst einer vollen Hineinsetzung
in die seelische oder mindestens
die ästhetische Disposition dieser
Zeitalters: erst von diesem vermittelnden
Standpunkte aus lässt sich
recht gemessen — und auch recht
urteilen.
Es ist eine der wichtigsten Aufgaben
der Kunstgeschichte, die
Mittel an die Hand zu geben,
welche auf den Standpunkt der
Bedingungen ästhetischen Genusses
in den verschiedenen Zeitaltern versetzen
. Von Wichtigkeit ist es hier
vor allem, die Intensität des Ver-
mögens kennen zu lernen, mit der
ein bestimmtes Zeitalter an die
ästhetische Wiedergabe der Erscheinungswelt
herangeht. Diese
Intensität wächst von Generation
zu Generation, in ihrem Verlauf
ist eines der Grundmotive kunst- ,
geschichtlicher Entwicklung überhaupt beschlossen.
Durchmustern wir von diesem Standpunkte aus
die Geschichte des mittelalterlichen Porträts in
Deutschland, so sehen wir die frühesten Porträtversuche
, die auf dem Boden nationaler Kunstanschauung
erwuchsen — die Bestrebungen der
Karolingischen und Ottonischen Renaissance müssen
hier natürlich ausgeschlossen werden und gehören
ganz andern Entwicklungszusammenhängen an ,
noch ganz in dem rohesten Bestreben aufgehen,
menschliche Züge überhaupt wiederzugeben. Man
das Bildnis eines Zeichners Wandal-
1*1 <?• 'OamccGLif
li.y
Selbstbildnis des Schreibers Wandal-
garius und andere Figuren und Köpfe
aus einer Handschrift des VIII. Jahrh.
(verkleinert).
S. Gallen, Stiftsbibl. Hs.'ySi.
vergleiche
garius aus dem 8. Jahrhundert
(Cod. Sangallensis 731 S. 234) mit
Zeichnungen anderer Köpfe desselben
„Meisters" (a. a. O. S. 27,
113, 235), und man wird vergebens
nach stärkeren persönlichen
Zügen ausschauen. Die verhältnismässig
seltenen deutschen Porträts
dieser Frühzeit sind noch, wie die
Darstellung des Menschen überhaupt
, kalligraphisch behandelt;
es ist kein Zufall, wenn die Kunst
des Zeichnens in dieser Zeit mit
dem Worte „scribere" ausgedrückt
wird: ornamental, d. h. im höchsten
Grade auf das Wesentliche
reduzierend ist das Vermögen ästhetischer
Wiedergabe der Aussen-
welt in dieser Zeit.
Dem gegenüber bringen die
Jahrhunderte der schönen deutschen
Kaiserzeit, die Zeiten der
Ottonen, Salier und teilweis Staufer
einen wichtigen Fortschritt. In
Porträts wie denen der salischen
Herrscher in dem Goldenen Buche
von Prüm vom Jahre 1106 (Bl. 74),
das in der Trierer Stadtbibliothek
aufbewahrt wird, ist das Ornamentale
verschwunden; klarer tritt
das Bestreben, der Wirklichkeit
eines Menschenantlitzes gerecht zu
werden, hervor. Allein wer würde
diese Köpfe über das bloss Typische
eines Königsporträts hinausgehoben
finden? Gewiss erscheinen
schon einzelne grobe individualisierende
Züge, Bart oder Bart-
losigkeit, spitzes oder rundes Kinn und dergleichen,
doch in so geringem Grade, dass das Typische durchaus
überwiegt: diese Bildnisse gehen mit den Prägungen
der Brakteaten, den Bildern unserer Königsund
Kaisersiegel zusammen. Auch im zwölften
Jahrhundert ist, selbst bei Kunstwerken ersten Ranges,
diese Typik des Porträts noch nicht überwunden.
Auf jenem Blatte des 1870 leider zu Grunde gegangenen
Hortus deliciarum, der herrlichen Bilderhandschrift
des elsässischen Klosters Odilienberg aus
der Zeit Kaiser Friedrichs I., das die Nonnen des
Klosters im Bildnis wiedergiebt, wird man eine
- 21 -
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_02/0033