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Form die Ideale und die Not unserer Zeit zu
verkörpern, poetische Ausblicke in soziale Zukunftsreiche
, modern in ihren Absichten, romantisch
in der Durchführung. Das alles mit unerhörter
Leichtigkeit ersonnen und niedergeschrieben.
Ich sah bei seinem Freunde Mr. Fairfax Murray
seine Manuskripte — lange Seiten ohne ein Wort
der Korrektur; er soll eines seiner frischesten Epen,
750 Zeilen, an einem Tage von 4 Uhr früh bis
4 Uhr nachmittags fertig zu Papier gebracht haben.
Und wiederum tritt uns oft der Poet entgegen
, wenn wir das lesen, was er in Vorträgen
und Aufsätzen über die Kunst und das Handwerk
der Vorzeit und unserer Tage gesprochen
und geschrieben hat. Er hat seit den siebziger
Jahren gern und häufig vor den verschiedensten
Hörern — Studenten, Handwerkern, Arbeitern,
Künstlern und Kunstfreunden — über die Technik
und die Gesetze der gewerblichen Künste, über die
Grundsätze der Dekoration und weitergehend über
die Kunst im Zusammenhange des modernen
Lebens geredet und dabei, soweit ich sehe, neben
Ruskin weitaus das Klarste und Tiefste über diese
Fragen ausgesprochen, selbst das Schwierigste in der
Sprache des täglichen Lebens und für die Denkweise
schlichter Hörer. Auch hier stets die volle
Persönlichkeit. Wie anschaulich er die Arbeitsweisen
und die künstlerischen Ansprüche der verschiedenen
Handwerke darzustellen weiss; wie innig
er in die Schönheiten der heimischen Natur einführt
; wie er die Einzelheiten schildert und auf
die schlichten Blumen unserer Wiesen verweist im
Gegensatz zu den üppigen Reizen der Treibhausblüten
; wie ernst und eindringend der erfahrene
Geschäftsmann vor allem die Leiden der heutigen
Kunstthätigkeit erfasst, die Teilung der Arbeit, das
Maschinenwesen, den ertötenden Konkurrenzkampf.
Und er dringt tiefer. Nicht die Kunst allein leidet;
auf all' unserer Werktagsarbeit, auf der ganzen, so
gepriesenen Zivilisation lastet der Fluch: die Arbeitsfreude
ist verloren, die Lust am eigenen Werk, der
Genuss der Schöpferkraft, und doch ist echte Kunst
vor allen anderen Dingen ein Ausdruck der Lust
an der Arbeit.
William Morris war nicht der Mann, diese
Thatsachen ruhig hinzunehmen. Er verfolgt seine
Gedanken in jener seltenen Mischung poetischen
Schwunges und praktischen Zugreifens, die ihm
eigen ist. Dem Dichter fällt es nicht schwer, aus
dieser Welt des künstlerischen Wirrsals aufzutauchen
; er glaubt all' den Fluch der modernen Industrie
zu tilgen, wenn er sich in die Traumwelt
des Sozialismus flüchtet. Seine Sehnsucht nach
echter, persönlicher, volksgemässer Kunst und nach
einem künstlerisch reifen Volke führt ihn dazu, an
den Zukunftsstaat der Sozialisten zu glauben. Aber
er will nicht bloss träumen und glauben. Er muss
anpacken, muss helfen, muss mitthun. Und dieser
wohlhabende Mann, dieser Künstler, dieser Dichter
wird Jahre lang einer der thätigsten Agitatoren der
sozialdemokratischen Gruppe, der sozialistischen Liga
von London. Er ist ihr Schatzmeister, ihr Redakteur
, ihr Sänger, ihr Schriftsteller und Redner.
Er setzt sich an die Spitze einer der Scharen, die
zu der berüchtigten Kundgebung des Trafalgar Square
zogen und von der Polizei zu Paaren getrieben
wurden. Er steht als Agitator wiederholt vor dem
Polizeigericht. Und er hat erst nach acht kostbaren
Jahren aufreibender Arbeit den „Genossen" seine
Absage geschickt, in der er sich endlich zu der
Uberzeugung bekennt, dass nur eine geringe Minderheit
reif sei, sich selber zu regieren. Gleich darauf
gründete er die Keimscott Press.
Auch ausserhalb der politischen Partei fand er
Gelegenheit genug, sich als Organisator und Vorkämpfer
zu bewähren. Er war der Begründer und
der Leiter der Gesellschaft zum Schutz der alten
Bauwerke und hat, wie kaum ein anderer, in That
und Wort und Schrift für die Schönheit und Heiligkeit
des Erbes der Vorzeit gewirkt, mit einer Wärme
und Kraft der Gesinnung und der Rede, die auch
den Leser hinreisst. Nicht minder fruchtbar für
seine Nation ist die Arbeit gewesen, die er
seit 1888 für die Kunsthandwerksausstellungen, die
Arts and Crafts Exhibitions, leistete, die den grössten
Anteil an der Verbreitung der modernen dekorativen
Grundsätze und Anschauungen gehabt haben.
In diesem seinem Wirken für die dekorativen
Künste in ihrem ganzen Umfange und in ihrem
Zusammenhange mit den übrigen Künsten, die sich
gern die hohen nennen, und die doch diesen Namen
erst dann verdienen, wenn sie selber im edelsten
Sinne dekorativ werden, haben wir ihn besonders zu
ehren und zu beobachten. Das stattliche Werk von
Aymer Vallance giebt beste Gelegenheit. Um diesen
Künsten neue Wege zu weisen, um sie aus fabrik-
mässiger Routine und unkünstlerischer Schablone
herauszuheben, bedarf es einer seltenen Vereinigung
der Anlagen. Der Praktiker allein thut es nicht;
der Künstler allein thut es auch nicht. Es müssen
der klare Kopf, das offene Auge und das warme
Dichterherz sich zusammenfinden. Und dazu muss
noch eines kommen, die Thatkraft, und ihre Begleiterin
, die Selbstzucht, die William Morris angeboren
waren, so dass er nichts halbes duldete
weder an sich selbst noch an seinen Mitarbeitern,
nicht an seiner Kunst und nicht an seinem Thun.
Es war ein ganzer Mann. _ t T
0 Peter Jessen.
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