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ein grossartiges Gemälde, voller Bewegung. Die
Stadt gab es nach wenigen Jahren wieder aus Händen,
um es dem Rodrigo Calderon zu schenken, einem
Antwerpener von Geburt und Sohn jenes Abenteurers,
der 20 Jahre vorher die berüchtigte Plünderung Antwerpens
geleitet hatte. Mari hat behauptet, es ist
jetzt sogar die herrschende Ansicht, dass Rubens
während seines zweiten Aufenthalts, im Jahre 1628,
jenes wichtige Gemälde, welches inzwischen, nachdem
Calderon in Ungnade gefallen, Eigentum der
Krone geworden war, überarbeitet habe. Bestimmt
lässt es sich nicht sagen. Jedenfalls zeigt es weniger
Frische undUrsprünglichkeit als die Werke der folgenden
Jahre. Das reiche Kolorit verdeckt nur zum Teil
die Härte der Linien und der Stil verrät, wie
lebendig noch die Werke des Giulio Romano und
des Tizian in der Erinnerung des Künstlers waren.
In Antwerpen gelangt Rubens zu seiner herrschenden
Stellung. Er wird in wunderbarster Weise
durch die Umstände unterstützt. Unter der Verwaltung
von Albert und Isabella ist die Kirche zu voller Macht
gelangt. Bürgerliche und religiöse Körperschaften
wetteifern mit Privatleuten, jedes Erinnerungszeichen
an die Wirren zu verwischen, die zu Ende
des XVI. Jahrhunderts den Boden der Heimat mit
Blut getränkt und so viele Gotteshäuser eines Teiles
ihres Schmuckes beraubt hatten. Vor Rubens waren
bereits zahlreiche Künstler an der Arbeit, um mit
ihrem Pinsel den Kirchen und öffentlichen Gebäuden
ihren Glanz wiederzugeben; aber zweifellos erst
in Rubens Thätigkeit finden diese Bestrebungen
ihren echtesten und stolzesten Ausdruck. Jedes
andere Kunstprinzip wird schnell durch das seinige
verdunkelt: Das ist das Charakteristische für die
vlämische Kunst an diesem Wendepunkt — eine
Thatsache, die zwar zunächst etwas überrascht, sich
aber leicht erklärt. Rubens war zum Herrschen
geboren und, wie es scheint, widerstrebte ihm eine
Teilung von Macht und Einfluss. Abgesehen hiervon
, Rubens räumt, ebenso wie seine Vorgänger,
den italienischen Einflüssen in seiner Kunst einen
grossen Platz ein, aber es entspringt dies bei ihm
anderen Quellen: Die Quellen seiner Phantasie sind
neu, und nicht mehr opfert er denselben Göttern,
wie die vor ihm. Die Strenge der Linienführung
muss der hinreissenden Gewalt des Farbenausdrucks
weichen. Wenn Rubens, wie Tintoretto, wünscht,
bis zu einem gewissen Grade die Zeichnung eines
Michel Angelo und das Kolorit eines Tizian zu verschmelzen
, so strebt er doch nach diesem Ziel auf
eine ihm völlig eigene Weise, und die Wege, die
seine Phantasie geht, hat noch niemand vor ihm
betreten. Ein Martin de Vos, ein unmittelbarer
Schüler des Tintoretto, der mit seinen Werken die
Kirchen von Antwerpen überschwemmte, hatte nichts
von seiner Kühnheit. Es giebt gefälschte Stiche mit
der Bezeichnung „Rubens" an Stelle von „Tintoretto".
Ein Blick genügt, um den Betrug zu entdecken, ein
so grosser Abstand trennt die beiden Meister, obwohl
sie von derselben Anschauung ausgingen.
Die Aufrichtung des Kreuzes, jetzt in der
Kirche Notre-Dame in Antwerpen, erinnert vielleicht
in der Auffassung an das Fresko von Robusti; die
Kreuzabnahme verrät deutlich den Einfluss des
Daniel da Volterra; die Hi mmelfahrt Mariä, der
wir so oft von der Hand des Meisters begegnen,
hat als Quelle ihrer Konception das berühmte Bild
des Tizian; die Beichte des heiligen Franciscus
ist in der Gestaltung von der Beichte des heiligen
Hieronymus von Dominichino beeinflusst. Und doch
ein Vergleich in allen diesen Fällen verrät trotz aller
Annäherung weit mehr Verschiedenheit als Ueber-
einstimmung.
In Flandern war die Art, wie Rubens die religiösen
Stoffe behandelte, neu. Sie zerreisst ganz
plötzlich die Kette der Tradition. Da sind z. B.
die Aufrichtung des Kreuzes und die Kreuzabnahme
wohl noch Tryptichen, aber die Seitenflügel erscheinen
hier nicht mehr als integrierende Teile des
Ganzen; bei dem ersteren Gemälde beschränken sie
sich auf eine Fortsetzung der Komposition des
Mittelfeldes.
Zuweilen erinnern seine Kompositionen an die
Anordnung in Werken anderer vlämischer Künstler.
So ist sein Christus bei Simon dem Pharisäer
(im Museum von St. Petersburg) identisch oder fast
identisch in der Komposition mit einem Gemälde
von Otto Vaenius in der Kirche von Bergue St.
Winnocq nicht weit von Dünkirchen. Aber man
sollte meinen, dass plötzlich der Hauch des Lebens
die Szene verwandelt hätte und dass der Schüler
mit seinem Pinsel wie mit einem Zauberstabe denselben
Figuren Atem und Leben verliehen habe,
die der Pinsel des Lehrers starr und leblos gelassen
hatte.
Deutlich weisen uns derartige Beispiele die Bahn,
die die vlämische Kunst durchläuft, da ihr in dem
Genie beim Beginn des XVII. Jahrhunderts plötzlich
die Morgenröte einer neuen Kunst am Horizont erscheint
. Ein Schleier zerreisst gleichsam vor den
Augen der Künstler und der Menge. Ein neues
Gesetz ist entstanden; von jetzt an wird die Natur
so sein, wie sie Rubens erscheint, in Form und in
Farbe. Alles, was im Kunstwerk eine Rolle spielt,
der Mensch und seine Umgebung, wird seine Auffassung
zur Quelle haben. Selbst das Bauwerk wird
mit seinen Linien so mitwirken, wie es seinem Pinsel
erforderlich erscheint. Und — seltsam genug! —
diese Kunstauffassung, ganz durchtränkt von italienischen
Einflüssen, ist nichtsdestoweniger ganz vlämisch.
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