http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_02/0080
fällt es schwer, sich ihn nach diesem Bilde zu denken,
in dem von der göttlichen Flamme, die diesen Mann
durchloderte, auch nicht ein Funken zu spüren ist.
Man muss sich wundern, dass grade bei einem
solchen Manne die Kunst gar nicht an den Versuch
einer wirklichen Würdigung herangetreten ist, die
sie doch so manchem Geringeren hat zu Teil werden
lassen. Es hat Piaton gewissermassen geschadet,
dass er nach dem Leben porträtiert worden ist.
Wäre sein Bildnis geschaffen, als er selbst bereits
der Vergangenheit angehörte, so würde von seiner
Bedeutung, von seinem Geist mehr darin sein, der
Künstler hätte den Charakter seiner Schriften dem
Werke zu Grunde legen müssen. Das Bildnis würde
dann freilich nicht den Reiz der Wirklichkeit haben,
den das erhaltene Porträt in so hohem Masse besitzt
, sondern vorwiegend als künstlerische Leistung
unser Interesse einnehmen.
Von Bildnissen dieser Art, die Persönlichkeiten
vergangener Zeit darstellen und ihr Wesen, wie es
in ihren Werken ausgesprochen ist, zur Anschauung
bringen, sind aus dem vierten Jahrhundert ausserordentlich
hervorragende erhalten. Am bekanntesten
und vielleicht am meisten bewundert ist die Statue
des Sophokles (vgl. Bd. I Taf. 93), ein glänzendes
Werk, aber im Grunde ein Dekorationsstück. Unendlich
viel geistreicher und tiefer ist das Porträt
des Euripides (Taf. 142) und das des Sokrates, beide
wie die Sophoklesstatue ein Jahrhundert nach dem
Leben der Dargestellten geschaffen. Die Künstler
haben wahrscheinlich ältere Bildnisse für ihre Darstellung
benutzen können, aus ihnen gewannen sie
die Grundlage für die Form; aber das, was diese
beiden Porträts gross macht, die Charakterzeichnung,
war ihr eigenes, freies Werk. Es giebt aus alter
und neuer Zeit wenig Bildnisse, die diesen Köpfen
an Feinheit und Kraft des Ausdrucks gleichkämen.
Hier ist das innerste Wesen erfasst und ausgesprochen.
Die antike Ueberlieferung berichtet von einer Statue
des Sokrates, die von der Hand der Lysipp war.
An kein anderes Werk als dieses, an keinen anderen
Meister als an Lysipp können wir bei der erhaltenen
Büste — nicht der einzigen, aber der weitaus besten
unter zahlreichen Wiederholungen — denken, von der
Lavater die Worte gesagt hat: „In dieser weiten
Schädelwölbung wohnt ein Geist, fähigTag zu bringen
in die Nacht der Vorurteile und ein ganzes Heer
von Hindernissen zu besiegen."
Auf dieser Höhe ist die Kunst gegen Ende des
vierten Jahrhunderts angelangt. Was sie auf dieser
Höhe geleistet hat, ist so überwiegend und hat so
nachhaltig auf die folgende Entwicklung gewirkt,
dass man in ihm etwas für die griechische Porträtkunst
überhaupt Charakteristisches hat erkennen
wollen. Aber die Entwicklung in ihren verschiedenen
Phasen, in der allmählichen Aufeinanderfolge der verschiedenartigsten
Versuche zeigt, dass mit einem allgemein
zusammenfassenden Urteil die griechische
Porträtkunst ihrem Wesen nach so wenig sich bezeichnen
lässt wie die der neueren Zeit. Es gilt
nicht für sie insgesamt, sondern nur für eine
bestimmte Epoche, dass sie „den Charakter des
ganzen Menschen ergründet und von diesem aus
den ganzen Menschen wieder belebt habe, nicht wie er
wirklich war, sondern wie er nach dem geistigen
Kern seines Lebens hätte sein müssen." Das Piatonporträt
allein würde hinreichen, diesen Satz, allgemein
gefasst, als nicht zutreffend zu erweisen.
Franz Winter.
Sokrates.
Rom, Villa Albani. Marmor.
- 68 -
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_02/0080