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Raffael. Klugheit, Mässigung, Stärke (Allegorie auf die Gerechtigkeit).
Lünettenbild. Rom, Vatikan (Stanzen).
Die Fresken Raffaels im Vatikan.
Abbildungen: I. Stanza della Segnatura. Klugheit, Mässigung, Stärke (Lünettenbild). Abbildung dieser Seite. — Die Ueber-
gabe der Decretalen. Abbildung S. 71. — Die Disputa. Taf. 85. 86. — Die Schule von Athen. Taf. 87, 88. — Der Parnass.
Taf. 107. 108. — II. Stanza d'Eliodoro. Die Messe von Bolsena. Taf. i3o. i3i. — Die Vertreibung Heliodors. Taf. 116. 117. —
Die Befreiung Petri. Tat. i3-i. 133- — III. Stanza delPIncendio. Der Borgobrand. Taf. 138. i3g.
RAFFAELS Fresken im Vatikan gesehen zu
haben, gehört zu den allerobersten Verpflichtungen
des Italien-Reisenden, und wer auch nur
wenige Tage in Rom zur Verfügung hat, wird nicht
wagen, den Besuch der Stanzen zu unterlassen. Und
doch wird dieser Besuch meist eine Enttäuschung
sein; denn mit Eile ist hier gar nicht anzukommen,
und dem flüchtigen Auge werden sich diese Dinge
immer verschlossen halten. Es ist ein Irrtum, zu
glauben, mit ein paar gesunden Augen könne hier
jeder gleich zu Tische sitzen. Wenn die dramatischen
Szenen des Heliodor-Zimmers eine gewisse Wirkung
auf jeden Beschauer ausüben werden, so sind doch
gerade die berühmtesten Bilder, die Schule von
Athen und die Disputa im ersten Raum, aus Voraussetzungen
hervorgegangen, die dem modernen
Publikum ganz fremd sind. Als Vorbereitung ist
nicht ein bestimmtes gegenständliches Wissen nötig,
wohl aber eine Art Augensinnlichkeit, die Empfänglichkeit
für die schöne Einzelbewegung und die
rhythmische Folge in der Gesamtbewegung, wie
sie heutzutage selten geworden sein mag.
Raffael war fünfundzwanzig Jahre alt, als er, von
Julius II. berufen, in der Camera della segnatura
die Arbeit beginnen sollte (1508/9). Die Aufgabe
lautete auf Darstellung der Theologie und Philosophie
an den Hauptwänden, der Poesie und Jurisprudenz
an den Seiten wänden, die von Fenstern durchsetzt
sind. Die Jurisprudenz wurde mit einer schönen
Allegorie (die Tugenden, die bei der Rechtspflege
nötig sind) und zwei interessanten Cercmonienbildern
(Uebergabe der Gesetzbücher des geistlichen und
weltlichen Rechts) abgefunden; die drei andern
geistigen Grossmächte aber verlangten eine Repräsentation
in den Bildern ihrer Vertreter. Und
nun stelle man sich vor, was das heisst: nebeneinander
eine Versammlung von Dichtern, von Philosophen
— wozu auch die gesamte Naturforschung
gehörte _ und von Gottesleuten zu malen. Es
durfte noch als ein Glück gelten, dass bei der
Theologie auch der himmlische Hofstaat erscheinen
sollte und bei den Dichtern Apollo und die Musen
mitfigurieren konnten; nichtsdestoweniger war es keine
beneidenswerte Aufgabe, dreimal hinter einander
ein fast identisches Thema zu behandeln.
Allein Raffael besass gerade die Talente, die hier
nötig waren. Er war bei Perugino aufgewachsen
in einer Schule der schönen Linie und der klaren Anordnung
, er hatte dann in Florenz Reichtum und
Mannigfaltigkeit gewonnen und in einer langen Reihe
von Madonnenbildern auf die schöne Fügung von
Figuren zur Gruppe achten gelernt. Was er im
Kleinen geübt, konnte er jetzt im Grossen bewähren.
Es galt erfinderisch zu sein in den Einzelmotiven der
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