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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_02/0082
Bewegung, klar in den Verbindungen und rhythmisch
in der Gesamtdisposition. In der That hat Raffael hier
Kompositionen von einer Schönheit und Fülle geliefert
, wie sie in der italienischen Kunst ihresgleichen
nicht hatten, und wie sie für alle Zukunft vorbildlich
für den ruhigen Wandstil geworden sind. Dabei
braucht man sich nicht zu verhehlen, dass die
Köpfe in der Charakteristik noch nicht bedeutend
sind und in der Bewegung das Künstliche und die
halbwahre Zierlichkeit nicht immer vermieden ist.
Man muss Raffaels Meisterschaft mehr in der Gruppenformation
und der Raumbehandlung suchen, und es
ist in den „Erläuterungen" jeweilen versucht worden,
auf diese formalen Motive die Aufmerksamkeit zu
lenken. Mit dem Wissen um die Namen und den
Sachinhalt der Bilder hat der künstlerische Eindruck
wenig zu thun. Wenn der moderne Betrachter
immer erst wissen will, wer das ist und was die
Figur bedeutet, bevor er überhaupt mit der Betrachtung
anfängt, so mag er sich hier von vornherein
gesagt sein lassen, dass Raffael uns selbst
bei Hauptfiguren, bei Trägern der Komposition,
keinen bestimmten Namen hat geben wollen. Die
Fresken enthalten im wesentlichen nichts als ganz
geläufige Vorstellungen, und die Masse der anonymen
Personen ist nicht hingestellt, um die gelehrte Neugier
herauszufordern, sondern um dem naiven Auge
ein Vergnügen zu machen.

Nach dem Saal der „Versammlungen" betreten
wir im zweiten Raum den Saal der „Geschichten".
Es sind vier biblische Wunderszenen, ausgewählt in
Bezug auf zeitgenössische Ereignisse, wo dieselbe
Wunderkraft an der Kirche sich wieder bewährt zu
haben schien: die Niederwerfung Heliodors, der am
Geld der Witwen und Waisen im Tempel sich vergriffen
hatte, die Befreiung des Petrus aus dem
Kerker und das Bluten der Hostie in den Händen
eines zweifelnden Priesters und endlich die Abschreckung
Attila's, der gegen Rom ziehen wollte.
Das letzte Bild ist nicht mehr unter Julius, sondern
unter Leo X. gemalt worden. Es zeigt in der
Ausführung eine fremde Hand und mag überhaupt
nicht zum ursprünglichen Plane gehört haben. Vollendet
wurde das Zimmer im Jahre 1514.

Es sind andere Aufgaben und ein anderer Stil:
Raffael selbst ist nicht mehr derselbe. Man ist zunächst
überrascht durch die Grösse der Figuren und
ihre plastische Wirkung. Sie sind nicht nur gesteigert
worden im absoluten Massstab, sondern sie
bedeuten auch mehr innerhalb des Rahmens. Nicht
mehr teppichartig flach wirken die Bilder an den
Wänden, sondern so, als ob sie in leibhaftiger Gegenwart
existierten, kommen die Gestalten aus dem
Dunkel des Grundes hervor, und die einrahmenden
Thorbogen mit ihren Schatten helfen die Illusion

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verstärken. Der lichte Ton ist einer kräftigeren
Farbe gewichen mit dunklen Tiefen. Das Schön-
linige, die feine Führung des Umrisses ist hier
nicht mehr der entscheidende Gesichtspunkt: jetzt
erscheinen die zusammengeballten Haufen, und
die grossen Massen von Hell und Dunkel bekommen
ein Wort mitzureden. Gewaltigere Kräfte
treten in Aktion und statt der allgemeinen harmonischen
Ausgleichung finden wir die dynamischen
Accente schon sehr frei ausgeteilt. Was
es auf die Zeitgenossen für einen Eindruck machen
musste, im Heliodorbild die Hauptfigur, den
gestürzten Feldherrn, am äussersten Rande des
Bildes zu finden, die Mitte aber leer, können wir
gar nicht mehr beurteilen, da wir von Jugend auf
an solche Gleichgewichtsstörungen gewöhnt worden
sind. Dann aber rechnet Raffael hier schon durchaus
mit den Kontrasten im grossen Stil. Nicht
Figur gegen Figur, sondern Massen werden gegen
Massen ausgespielt. Der Gegensatz von Ruhe und
Bewegung ganzer Bildhälften wird zum Kompositionsprinzip
. Die feierlich assistierende Papstgruppe im
Heliodor (mit dem Porträt Julius II.) und die analoge
in der Messe von Bolsena hat sich Raffael nicht
abnötigen lassen gegen besseres Wissen und Gewissen
, sie bildet beidemal einen integrierenden Bestandteil
der Komposition.

Man hat den Stil der Heliodorfresken im
Gegensatz zu dem zeichnerischen der älteren
Arbeiten einen malerischen genannt und damit die
Sensibilität des Auges für die Momente der Erscheinung
bezeichnen wollen, die sich nicht mit
Linien fassen lassen, wie hell und dunkel. Eine
lineare Reproduktion der Disputa würde zwar den
Reiz des Originales nicht haben, aber das Wesentliche
der Wirkung doch vermitteln können; beim
Heliodor wäre es unmöglich, ihn auf blosse Umrisse
abzuziehen, ohne den Effekt im Nerv zu zerstören.
Und was soll man erst sagen, wenn Raffael bei der
Befreiung Petri die Lichterscheinung des Engels im
Kerker malt, Mondschein und Fackelglanz und die
Reflexe auf dem Metall der Rüstungen! Hier liegt
in der That eine bedeutende Entwickelung ins
malerische Sehen vor, nur darf man den Begriff
„malerisch" nicht als erschöpfende Charakteristik von
Raffaels neuem Stil auffassen, denn — abgesehen
von anderem — ist die zeichnerische Entwickelung
mindestens ebenso gross: was Raffael jetzt an
Problemen der Zeichnung bewältigt, physische Bewegungen
und Ausdrucksbewegungen, ist auch von
neuer Art. Die prachtvolle Figur des rutenschwingenden
Jünglings im Heliodor und der Schmerzausdruck
des gestürzten Feldherrn sind beide
früher undenkbar. Und sieht man allein auf die
ruhigen Köpfe der Messe von Bolsena, so wird


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