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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_04/0032
Allein diese Bilder mehren sich zu einer staunenswerten
Reihe, sie gewinnen einen wahrhaft berückenden
Reichtum, der alle Fesseln ästhetischer
Theorien sprengt, sie bannen in den winzigsten
Raum eine kaum übersehbare Fülle von Anmut
und Schönheit!

Die berühmten Marksteine auf diesem Wege
sind die beiden Bronzethüren des Florentiner
Baptisteriums, aber die Arbeit an ihnen erforderte
ein ganzes Menschenleben. Für die nördliche Pforte
war Ghiberti von 1403—1424, für die östliche von
1424—1452 beschäftigt. In der That zeigen sich beträchtliche
Wert- und Stilunterschiede, nicht nur
zwischen den beiden Pforten, sondern auch zwischen
den Bestandteilen jedes einzelnen Thürflügels. Schon
in der Gesamterscheinung. An der Nordthür (Bd. IV
Tf. 54. 55) bleibt das figürliche Bild in seinem
breiten, vielgliedrigen Rahmen für die Fernwirkung
gleichsam eine ornamentale Zuthat. Diese Pforte
gleicht vergrösserter Goldschmiedearbeit. Anders
die Ostthür (Bd. II Tf. 111. 112). Da wird der
Flügel zu einer mächtigen Bildtafel, da ist nicht
der Schmuck die Hauptsache, sondern die Erzählung,
und reicheren Inhalt hat bildende Kunst niemals auf
einem einzigen Blatte vereint! —

Prüft man näher, so lässt sich die Neigung zu
solchem Ziel aber auch bereits an den Reliefs der
Nordthür erkennen. Scheint doch auch hier die
aus dem Hintergrund so voll herausdringende Gestaltenwelt
den unbequemen Rahmen zuweilen fast
sprengen zu wollen! Schon hier lenkt der Bildner
die Blicke des Beschauers so völlig nach seinem
Willen, dass man an die Tiefendimension seiner
Reliefbilder glaubt, wie an bühnenartige Räume, in
denen sich alle Gestalten körperlich greifbar bewegen.

Den Vergleich mit der Bühne legt auch die
Art dieser Bewegung selbst nahe, denn alle diese
Gruppen und Figuren wären unmittelbar „bühnengerecht
". Selbst im höchsten Pathos scheinen sie
der Zuschauer gewärtig, oder richtiger: die Schönheitsgesetze
der darstellenden Kunst sind ihnen, also
ihrem Schöpfer, schon völlig zur Natur geworden.

Damit wird der Grundzug in Ghibertis Kunst
berührt: sein Gefühl für Alles, was dem Auge
wohlthut, für weich geschwungene Linien und
Formen, für zierliche oder würdevolle Haltung, für
gemessene und doch energische Bewegungen. Dieser
Schönheitssinn giebt ruhigen, mehr genrehaften
Vorgängen-—wie der Geburt Christi, der Anbetung
der Könige, der Scene mit den Schriftgelehrten, der
Taufe im Jordan und dem Einzug in Jerusalem —
eine im Quattrocento fast unvergleichliche Verbindung
von Anmut und Vornehmheit; er breitet
sich aber auch selbst über die dramatisch bewegtesten
Darstellungen wie ein linder, alles Schroffe mildernder

Hauch. Die Vertreibung der Wechsler von der
Tempelpforte, Christi Gefangennahme und Geisse-
lung — überall vornehme Gestalten! Selbst die
Schergen und Marterknechte halten und bewegen sich
nicht ohne Würde. Daher haben diese Figuren aber
auch nicht die drastische Lebenswahrheit, die bei
den Menschen Donatellos zum Ansprechen lockt: sie
erscheinen idealisiert und stilisiert. Ihre feinen Köpfe
sind von einer zu allgemeingiltigen Schönheit, ihre
Körper oft überschlank, ihre Kleider gleichartige
Draperien, und in ihrer Haltung macht sich die
Vorliebe für eine offenbar durch das Stilgefühl des
Bildners bestimmte Ponderation geltend.

Die letztere — mit ausgebogener Hüfte, in „geschwungener
Stellung", wobei das Standbein mehr
passiv belastet als aktiv tragend erscheint — ist
spezifisch „gotisch", und eine solche Verwandtschaft
mit dem gotischen Menschenideal wird auch durch
die Schlankheit der Gestalten, die Schwäche des
Knochengerüstes bezeugt.

Dennoch bleibt Ghiberti schon an dieser Nordthür
keineswegs nur Gotiker. Der Reichtum seiner Bilder
geht über das mittelalterliche Wollen, die Sicherheit
seiner Formenbehandlung über das mittelalterliche
Können hinaus. Vor allem aber ist es die innere
psychologische Rechtfertigung der Haltung und des
Ausdrucks, die das Nahen eines neuen Kunststiles
verkündet. Wo gäbe es zuvor in der Florentiner
Plastik eine solche Verkörperung frohen Erstaunens,
wie in den beiden Hirten auf dem Relief der Geburt
Christi? Wo ist in zwei Einzelgestalten in gleicher
Vollendung der Gegensatz zwischen der göttlichen
Hoheit und der Versuchung ausgesprochen, wie
in dieser Scene zwischen Christus und Satan? Und
glaubt man nicht das Schluchzen dieser Magdalena
zu vernehmen, die sich bei der Auferweckung des
Lazarus dem wunderthätigen Heiland zu Füssen
wirft? —

Diese psychologische Wahrheit hatte in Italien
mit Giovanni Pisano in stürmischer, allem Gleich-
mass ferner Wucht begonnen, um dann schon
bei Giotto und Andrea Pisano in die Bahnen einzulenken
, auf denen Ghibertis noch gotisch empfindender
Schönheitssinn zu diesen Reliefbildern der nördlichen
Baptisteriumspforte und zu seinen beiden Meisterstücken
am Taufbrunnen in Siena (1417—27), der
„Taufe Christi" und dem „Verhör des Johannes",
gelangte.

Allein Ghiberti selbst Hess dieses erste Ziel noch
weit zurück. Wie in ihrer Gesamterscheinung, so
bezeichnet die östliche Pforte auch in der Gesamtkunst
der nördlichen gegenüber in vieler Hinsicht
einen Fortschritt. —

Eine hergebrachte Definition erklärt den Begriff
„Stil" aus der Beschränkung auf das Wesentliche,


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