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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_04/0084
seinen Blick richtete, und das er in voller Wahrheit
, so wie es in die Erscheinung trat, wiederzugeben
trachtete.

Polyklet hat die Natur mit anderen Augen und
mit anderem Interesse gesehen. Er suchte überall
das Gesetzmässige und Lehrbare. Es wird überliefert
, dass seine Statue des Doryphoros, in der
er die Summe seines Könnens und Wissens niedergelegt
hatte, in späterer Zeit von den Künstlern
„wie ein praktisches Lehrbuch und Muster der
Kunst" benutzt worden sei, von dem man die
Regeln der wohlgebildeten Form und der Harmonie
der Verhältnisse gleichsam ablesen konnte.
Und was der Künstler in dieser Figur als Norm zu
bildlichem Ausdruck brachte, hatte er in einer
Schrift, die den Titel „Kanon" trug, theoretisch erläutert
. In dieser Ueberlieferung erscheint uns
Polyklet als der abwägende, berechnende, aus der
Fülle des Wissens heraus arbeitende Künstler, der
dem beobachtenden, die bewegte und wechselnde
Natur rasch und leidenschaftlich erfassenden Myron
gegenübergestanden haben mag, etwa wie Lionardo
dem Donatello.

Xenophon lässt in den Memorabilien (III 10, i)
den Sokrates im Gespräch mit dem Maler
Parrhasios, der dem Polyklet gleichzeitig war, ein
Programm aufstellen, in dem der Satz enthalten ist:
„Für die Darstellung des Schönen wird der
Künstler, da an einem einzelnen Menschen nicht
leicht alles in tadelloser Bildung anzutreffen ist, aus
vielen das, was an jedem Einzelnen schön ist, auswählen
und so das Einzelne zu einem vollendet
schönen Gesamtbild zusammensetzen." Diesen Satz
könnte man sich von Polyklet, der in dem Kreise
des Sokrates grosses Ansehen genoss, entwickelt
denken. Mit ihm stellt sich der Künstler über die
Natur und meistert die Natur.

In Polyklets Musterfigur war die Harmonie der
Verhältnisse nach einem auf das feinste durchgebildeten
System der Berechnung aus einem einheitlichen
kleinsten Mass herausentwickelt, ähnlich wie
in der gleichzeitigen Architektur die Harmonie der
Bauglieder in ihrem Verhältnis untereinander. Diese
Proportionen fanden Kritiker späterer Zeit, denen
die schlankeren Verhältnisse des Lysippischen Kanons
(vgl. Museum Bd. I, Taf. 148) mehr zusagten,
etwas breit und schwer, ein Urteil, das die erhaltenen
Nachbildungen von Werken des Meisters verständlich
machen.

Es ist noch nicht sehr lange, dass uns die Kunst
des Polyklet aus seinen Werken selbst bekannt ist.
Im Jahre 1864 hat Carl Friederichs zum erstenmal
Nachbildungen des Doryphoros nachgewiesen, im An-
schluss daran sind zwei andere Polykletische Werke,
der Diadumenos und die Amazone wiedergefunden.

Die erhaltenen Nachbildungen sind in Marmor ausgeführt
, während die Originalstatuen in Bronze gebildet
waren, nur von dem Kopf des Doryphoros
ist eine Bronzekopie erhalten (Abb. S. 69), eine aus
Herculaneum stammende Herme, die von dem
Künstler Apollonios aus Athen gearbeitet ist. Dieses
Stück, sorgfältig ausgeführt, dürfte den Stil des
Künstlers am zuverlässigsten wiedergeben.

Eine Betrachtung, wie in den erhaltenen Figuren
das gewählte Motiv zur Entwicklung gebracht ist,
lässt die Eigenart der Kunstweise des Polyklet in
scharfen Linien hervortreten und führt in jedem einzelnen
Falle auf den Gegensatz zu der am charakteristischsten
durch Myron vertretenen Richtung der
attischen Kunst zurück. Die Statue des Doryphoros
(abgeb. Bd. II Taf. 124) stellt einen kräftig gebauten
Jüngling dar, der mit der Linken einen Speer oder
Stab schultert. Der Körper ist in voller Ruhe. Das
rechte Bein, fest aufgesetzt, trägt den Körper, während
das linke Bein, völlig entlastet, vom Knie ab
weit zurückgezogen ist und der Fuss nur mit den
Spitzen der Zehen den Boden berührt. Die Stellung
ist die eines im langsamen Hinschreiten Anhaltenden:
Das nachschleifende linke Bein deutet auf die vorausgegangene
Schrittbewegung zurück, die starke
Schwellung der rechten Hüfte dagegen, die wie
durch einen Ruck weit herausgetrieben ist, zeigt an,
dass die Bewegung zu ihrem vollständigen Abschluss
gekommen ist. In dem Stand, in den die Figur eingetreten
ist, kann sie dauernd verharren, er ist ein
so fester, dass sich das linke Bein frei vom Boden
lösen könnte, ohne dass der Körper dadurch das
Gleichgewicht verlieren würde.

Das Eigentümliche in dem Standmotiv lässt sich
am leichtesten durch eine Vergleichung mit anderen
in ruhiger Haltung stehend dargestellten Figuren
deutlich machen. Hierzu eignet sich kein Werk
besser, als die dem Doryphoros etwa gleichzeitige
Statue des sogenannten Idolino, die im Museum,
Bd. II Taf. 62 abgebildet ist. Der Idolino hat anscheinend
einen viel festeren und ruhigeren Stand
als die Polykletische Figur, indem beide Füsse mit
voller Sohle auf dem Boden aufstehen. Gleichwohl
hat man bei dieser Figur den Eindruck, dass eine Bewegung
, dass innerhalb einer Bewegung ein flüchtiger
Moment aufgefasst und wiedergegeben ist. Für diesen
Eindruck ist es wesentlich, dass die Last des Körpers
nicht mit ihrer vollen Schwere auf dem einen Beine
ruht, das denn auch nicht, wie es beim Doryphoros
der Fall ist, wie in den Boden eingewurzelt steht,
sondern dass sie, obgleich das linke Bein leicht gekrümmt
zur Seite gesetzt ist, fast gleichmässig von
beiden Beinen getragen wird, daher auch hier die
Hüfte weniger nach der Seite des Standbeines hin
heraustritt; der ganze Körper in allen seinen Glie-


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