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Dürers Gewandstil
IDEALE Gewandungen sind in der modernen Malerei
nicht gerade häufig, da man die Objekte lieber
der Wirklichkeit entnimmt oder annähert; wo die
frei erfundene Drapierung vorkommt, liegt der Akzent
auf dem Gesamtumriss und der Farbe, auf der
Einbeziehung beider Momente in das Bildganze.
Die alten Künstler dagegen erschöpften sich in der
Feinheit der linearen Einzeldurchführung. Bis um
1500 hatte sich ein Raffinement der Linienempfindung
entwickelt, das sich erst nach sorgfältiger Erziehung
dem modernen Auge aufschliesst, weil dieses gewohnt
ist, vorzugsweise den Feinheiten der Farbe
und des Tons nachzugehen. So sehr das moderne
Auge zuweilen durch Dürersche Farbenzusammenstellungen
beleidigt wird, so erstaunt würde Dürer
sein, wenn er Idealgewänder aus neuerer Zeit sähe.
Dürer hat freilich nicht die Eleganz der Linie
wie seine florentiner Zeitgenossen, aber denselben
Reichtum und vielleicht noch mehr Empfindung.
Seine künstlerische Erziehung geschah in der
Zeit der Spätgotik, einer Zeit also, in der eine jahrhundertelange
Entwicklung des Gewandstils an ihrem
Ende angekommen war: ein Weiterkommen war nur
durch Abkehrung möglich. Die spätgotische Gewandung
verhält sich zu der hochgotischen (von der
W. Vöge hier gesprochen hat — vgl. Bd. VIII S. 65)
etwa wie das spätgotische zum hochgotischen Gewölbe.
Dies ist einfach, konstruktiv, klar, feingelenkig, jenes
überreich, von der Konstruktion unabhängig, ja oft
genug über sie täuschend, verwirrend wenn man den
Linien folgen will. So ist die hochgotische Gewandung
einfach gelegt, ein paar Hauptlinien zeigen
die Bewegung des Körpers, ursprünglich in immer
neuen Motiven, aus denen sich freilich bald ein
Schema entwickelt: die langhingezogene Falte von
der Hüfte des Standbeins zum Knöchel des Spielbeins
, die quer laufenden Kurven vor dem Standbein
; schwächere Faltenzüge begleiten in weichen
Linien die führenden Motive. Die spätgotische Gewandung
dagegen ist nicht mehr konstruktiv, sondern
ornamental, man denkt nicht mehr an den biegsamen
Körper darunter, sondern man will ein möglichst
reiches Stoffgebäude zeigen mit einer wahrhaft
verwirrenden Fülle von Falten und Fältchen, die
jetzt nicht mehr weich verlaufen und sich weich
herausrunden, sondern hart modelliert sind und eckig
aneinander stossen. Man inspiriert sich eben an
den vergoldeten Gewandmassen der Schnitzaltäre,
auf deren zahllosen Falten das Licht spielt. Natürlich
wenn man starke Bewegungen geben muss, mit
Rücksicht auf die Erzählung, so ist man gezwungen,
etwas mehr vom Körper anzudeuten als bei ruhig
thronenden Gewandfiguren, doch stehen die einzelnen
so gezeigten Körperteile nicht in rechtem Zusammenhang
: man kennt den nackten Körper zu wenig,
und das Hauptinteresse bleibt die reiche Masse der
Falten. Man findet also oft, z. B. bei schwebenden
Engeln, dass ein vorgebrachtes Knie an die Existenz
des Körpers erinnert, aber etwa den Raum von da
bis zum Fuss wird man in der durchschnittlichen
Produktion selten richtig gegeben sehen.
Die grossen Künstler natürlich sind gewissenhafter
— wie sie immer auf Dinge achten, die dem
Zeitgeschmack ganz gleichgiltig sind — und so erreichen
z. B. die Niederlande schon mit Roger einen
ausserordentlich sicheren Gewandstil. In Nürnberg
dagegen arbeitete man ganz handwerklich, und dementsprechend
finden wir in Dürers frühster Gewandfigur
, der Madonna von 1485 (Federzeichnung im
Berliner Kupferstichkabinett) das konventionelle
körperlose Stoffgebäude. Auf derselben Stufe stehen
noch die ersten Arbeiten nach Dürers Rückkehr
von der Wanderschaft, z. B. die Madonna mit den
Hasen (Tafel 57), ein recht charakteristisches Werk
des spätgotischen Geschmackes. Man sieht hier
den Zusammenhang des Gewandstils mit dem plastischen
Empfinden: wenn der Künstler schon nicht
daran denkt, die für das Verständnis des Ganzen
so wichtige Bewegung der Arme klar zu machen,
so versucht er noch viel weniger, in den unteren
Gewandmassen den Körper und seine Bewegung zu
zeigen.
Während der Arbeit an der Apokalypse taucht
nun ein für Dürer neues Prinzip auf: er versucht,
Form und Bewegung des Körpers durch das Gewand
hindurch anzudeuten. Es ist das stets wiederkehrende
, zu immer neuen Lösungsversuchen führende
Problem der Idealgewandung. Sehr wahrscheinlich
ist die Anregung dazu von aussen gekommen
, nämlich aus der Beschäftigung mit Man-
tegnas Kupferstichen; doch ist hervorzuheben, dass
Dürer seinen eigenen Weg geht; er fand wohl seine
knorrigen spätgotischen Formen schöner als die wie
nass angeklatschten Gewänder Mantegnas; auch beherrschte
er die Körperformen noch nicht genügend.
Er gibt diese nur an einigen hervortretenden Teilen,
z. B. Schultern, Knieen; dazwischen spannen sich
lange derbe Faltenzüge, die er immer geschickter
zeichnet, so dass man empfindet, weshalb der Stoff
sich gerade so spannen muss: man fängt an, die Be-
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