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Diese war für Andrea das Ziel, wie sie es für
Praxiteles gewesen ist, und in überraschend verwandten
Zügen auch der äusseren Gestaltungsweise
tritt sie uns in seinen Gemälden entgegen. Auch
er hat in seinen jugendlichen Figuren diese bezaubernde
Anmut. Fast ist man aber versucht, von einem
"Wiederaufleben des praxitelischen Schönheitsideales
zu sprechen bei einem vergleichenden Blick auf die
Bildung der Köpfe, wie in Figuren etwa des Johannes
in Pitti (Taf. 86) oder der beiden Engel in der Beweinung
Christi in Wien (Museum I 26), aber auch
in denen der Maria. So ähnlich ist der Schnitt des
feinen, von der breiten Stirnfläche nach unten zart
zulaufenden Ovals, die Gliederung der Wangen und
des Kinnes, die Form der unter der Stirn breit
ansetzenden sanft geschwungenen Nase und der zart
geschwellten Lippen des kleinen sinnlichen Mundes.
Und hiermit sind die Aehnlichkeiten noch nicht
erschöpft. Auch in der Gewandbehandlung sind sie
in demselben Masse enthalten. Die reichen weitfaltigen
Gewänder in den Gemälden Andreas, ihre
kunstvoll zurechtgemachte Drapierung, die Gliederung
des Stoffes in grosse und gebrochene Falten
und ihre auf fein abgetönte Licht- und Schattenwirkung
berechnete, überaus sorgfältigeDurchführung
führen uns auf das Bravourstück praxitelischer Kunst,
das Gewand des Hermes zurück, auf das der Meister
gewiss nicht weniger stolz war, als auf die Figur
selbst. Auch hier ist das Gewand wie ein Stück
Leben für sich hingestellt: das Bündel mit dem
darüberhängenden Mantel des Josef in der Madonna
del Sacco ist ein gleicher, in seiner Art erster Schritt
zur Darstellung des Stillebens. Und wie Praxiteles
durch die Wiedergabe des Stofflichen eine neue Art
der Gewandbehandlung einleitete, so ist Andrea mit
denselben Mitteln über den älteren konventionellen
Gewandstil hinausgegangen.
„Ein wunderbarer Geist," sagt Burckhardt von
Andrea, „nur einseitig begabt, aber einer der grössten
Entdecker im Gebiet der Kunstmittel." Man könnte
Praxiteles nicht besser charakterisieren, auch hinsichtlich
dessen, was er vermissen lässt. Denn einseitig
ist auch er, am auffälligsten in der Vorliebe
für ein und dasselbe Motiv der in völliger Ruhe
angelehnt oder aufgestützt dastehenden Figur, das er
wie etwas von vornherein Gegebenes wiederholt
auch da, wo die Aufgabe selbst, die Idee der Darstellung
nicht darauf hinführte. Seine Fortschritte
im Gebiete der Kunstmittel hat uns der Hermes
kennen gelehrt. Was über die Behandlung des Marmors
zu sagen war, lässt sich, in Uebertragung, fast
ohne weiteres auch mit den Sätzen zusammenfassen,
die Burckhardt über das Kolorit Andrea del Sartos
geschrieben hat: „Er hat zuerst von allen Florentinern
eine sichere harmonische Skala, eine tiefe oft
leuchtende Durchsichtigkeit der Farben, einen wunderbaren
Duft der Färbung erreicht .... In den
seltenen Fällen, wo seine Bilder noch wohl erhalten
sind, ist Licht und Farbe und Charakter in ihnen
auf wunderbare Weise in eins verschmolzen." Dazu
dürfen wir uns im Hinblick auf die Feinheit, mit
der in Andreas Gemälden die Umrisse wie in verschwindenden
, sich auflösenden Linien abgetönt
sind, der kunstvollen Konturführung der Hermesstatue
erinnern.
Das Zusammentreffen ist nicht zufällig. Die
Stufe der Entwickelung, die in der griechischen
Kunst Praxiteles einnimmt, ist dieselbe, wie sie in
der Kunst der Renaissance durch Andrea del Sarto
bezeichnet wird. Beide haben ihr von Natur verwandtes
Talent in glücklichster Stunde entwickeln
können, auf einem durch lange Arbeit, durch alle
nach und nach errungenen Fortschritte grosser Vorgänger
vorbereiteten Boden, unter ähnlich günstigen
äusseren Bedingungen der Zeitverhältnisse. So führt
uns diese vergleichende Betrachtung auf den eingangs
angeführten Satz zurück, den wir Goethes
Abhandlung „Antik und Modern", dankbar für die
in ihr enthaltenen Anregungen, entnommen haben.
Franz Winter.
Andrea del Sarto, Madonna del Sacco.
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