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Die französische Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts.
FRANKREICHS Kunstschaffen hat eine ruhmreiche
, aber lückenhafte Geschichte. Perioden des
Glanzes werden getrennt durch einen relativ dunkeln
Zeitraum. Auf diesem und jenem Felde schreitet
der französische Geist voran, während er hier und
dort zurückbleibt. Der Sinn für geometrische Konsequenz
und für Flächendekoration ist dem Stamme
eingeboren. Der monumentale Figurenschmuck
der französischen Kathedralen aus dem 12. und
13. Jahrhundert ist das Höchste, was die mittelalterliche
Skulptur hervorgebracht hat. In Arbeiten
der Goldschmiedekunst, der Emailmalerei, der
Bildweberei kommt eine besondere Begabung für
technisch schwieriges Schaffen zur Entfaltung. In
der Möbelkunst wahrt Frankreich eine fast ununterbrochene
, entwickelungsfähige Tradition bis zum
18. Jahrhundert, bis zu jener Zeit, da es den übrigen,
verarmten Ländern in allen Dingen der Kunst und
des Geschmackes gesetzgebend wurde. ■
Ein problematisches und gewiss nicht besonders
glanzvolles Kapitel ist die Geschichte der französischen
Malerei. Im 19. Jahrhundert freilich ergreift
der gallische Stamm sehr energisch die Zügel; die
vielgerühmten Fortschritte und Neuerungen der
Naturwiedergabe im vorigen Jahrhundert gehen
von Paris aus. Im 18. Jahrhundert aber, als doch
die französische Kultur der reichsten Blüte sich
erfreute und einer fast unbestrittenen Vorherrschaft
, war unter den Malern des Landes nur
einer von hohem Range. Und Antoine Watteau
stammt aus Valenciennes, von der niederländischen
Grenze her. In der Malkunst des 17. und 16. Jahrhunderts
äussert sich die französische Art nicht
gerade rein, scharf national ausgeprägt. Und im
15. Jahrhundert, in der Revolutionszeit der Naturbeobachtung
, da in Italien und in den Niederlanden
die moderne Malerei geboren wurde? Die Geschichte
gibt nur unbestimmte Antwort auf die
Frage, wie Frankreich an dem Aufschwünge der
Tafelmalerei teilgenommen habe. Eine zusammenhängende
Vorstellung von der französischen Buchmalerei
im 14. und 15. Jahrhundert besitzen wir,
nicht aber eine zusammenhängende Vorstellung von
den Anfängen der französischen Tafelmalerei. Die
Buchmalerei ruht auf mittelalterlichen Ueberliefe-
rungen, ist ihrer Natur nach konservativ; der Geist
und die Naturauffassung der neueren Zeit wendet
sich der Tafelmalerei zu als zu dem ihr angemessenen
Ausdruckmittel. So in Italien und in
den Niederlanden, so auch — minder deutlich sichtbar
— in Frankreich.
Kein Land, etwa mit Ausnahme Hollands und Englands
, istseinesBesitzes an älteren Altarbildern so gänzlich
beraubt worden, wie Frankreich. Es fehlt aber
nicht an Anhaltspunkten zu der Vorstellung, dass die
ältere französische Altarmalerei, deren Schöpfungen
zumeist verschwunden sind, der italienischen und
niederländischen nicht ebenbürtig gewesen sei.
Nachdem die französische Kunstforschung bis
vor kurzem den spärlichen Resten ihrer älteren
Malkunst wenig Interesse gewidmet hatte, sollte ein
energischer, von nationalem Ehrgeiz angetriebener
Vorstoss das Versäumte nachholen, sollte mit einem
Schlage das Blühen der französischen Malerei im
15. Jahrhundert enthüllt werden. In der letzten
Zeit ist viel über diese Dinge geschrieben worden,
mit der Tendenz, den „primitifs francais" die gleiche
Wertschätzung zu verschaffen, wie den gleichzeitigen
italienischen und niederländischen Schöpfungen. Eine
in Paris im Frühjahr 1904 mit grossem Geschick
inszenierte Ausstellung diente eben dieser Absicht.
Die Ausstellung war eine dankenswerte Veranstaltung
und höchst lehrreich. Ihre Ergebnisse aber
im Sinne der angedeuteten Fragen waren eher negativ
als positiv, und das von den Veranstaltern leidenschaftlich
beschworene Gesamtbild einer selbständigen
, sich aus sich selbst entwickelnden Tafelmalerei
scheint nicht sichtbar geworden zu sein.
Die wenigen Gelehrten, die sich um diese Dinge
bemüht haben, sind durch die Ausstellung nicht
wesentlich klüger geworden. Auch jetzt — nach
der Ausstellung—ist das Gesamtbild mager, lückenhaft
und zusammenhangslos, ausgefüllt und ergänzt weniger
durch neu aufgetauchtes Material, durch bereicherte
Anschauung als — scheinbar —"durch die unvergleichliche
'Beredsamkeit französischer Schriftsteller.
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