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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_06/0070
mit den Kupfern Callots. Was die Menschheit damals
erfüllte, wie sie wirkte und litt, wie sie klagte
und sich freute, wie sie handelte und dachte, und
zu einem nicht geringen Teil auch was sie tat, erfahren
wir in zuverlässigster Weise durch ihn. Das
ist sicherlich derjenige Pfeiler seiner Volkstümlichkeit
, der uns heute als deren Hauptträger vorkommt.

Aber auch in rein künstlerischer Beziehung
bietet uns Callot reichen Genuss, vor allem durch
den unerschöpflichen Reichtum seiner Erfindung,
durch seine schier unbegrenzte Formenphantasie.
In unserer neueren Kunst sind wieder einmal Wege
eingeschlagen, Seiten ausgebaut worden, die es erklärlich
erscheinen lassen, dass wir das, was Callot
leistet, zu unterschätzen geneigt sind. Der Stimmungsgehalt
in der Kunst ist uns eine Hauptsache
geworden; wir erfreuen uns besonders lebhaft an
glücklich gelösten Farbenproblemen, an besonderen
Eigentümlichkeiten des Vortrags. Darüber wird
das reine Erzählertalent in der bildenden, ebenso
sehr wie in der dichtenden Kunst vernachlässigt.
Demjenigen, dem ununterbrochen neue Tatsachen,
wenn ich mich so ausdrücken darf, hervorsprudeln,
schenken wir nicht die gleiche Neigung, wie dem,
der eine einzige, uns auf besonders intime, persönliche
Weise nahebringt. Und doch ist es eine eigene
Sache mit dem Erfinden, dem Erzählen. Gegenüber
einem Plagiator, der seinem Vorbild das wie
abgesehen hat, gibt es neunundneunzig, die sich an
das was halten. Jeder grosse Künstler ist ausgesprochene
Persönlichkeit, und trotzdem haben so
viele gelegentlich, mancher sogar öfter, einem Vorgänger
, irgend eine bestimmte Erfindung, eine Figur
wie sie ist, Zug um Zug entlehnt. Wenn das Erzählen,
das Erfinden nicht eine eigenartig schwierige, hochanzuschlagende
Sache wäre, wie wollte man diese
merkwürdige Tatsache dann erklären?

Callot hat sich nie angelehnt, er konnte immer
aus sich heraus, aus dem Vollen schaffen. Das bewunderten
schon seine Zeitgenossen, und am meisten
macht es auf sie Eindruck, wie glücklich er in der
Bewältigung grosser Massen war. Auf solchen
Blättern, wie „Les supplices" (M. 665), den Florentiner
Festlichkeiten (z. B. M. 634), dem Stechen
zu Nancy (M. 621; Taf. 114), vor allem auf dem grossen
Jahrmarkt bei Florenz (M. 624), wimmelt es von
Hunderten von Menschen. Schliesslich musste er
doch einem jeden von ihnen Gestalt und Bewegung
geben und hat, ohne sich zu wiederholen, eine jede
in die Oekonomie seiner Darstellung eingefügt.
Wenn man eine Folge von zwanzig oder dreissig
Bettlern durchblättert, und keine Ermüdung verspürt
, auf keine Wiederholung trifft, lobt man den
Meister schon. Aber was ist das im Vergleich mit

einem einzigen der Blätter Callots, von denen er
Dutzende schuf!

Tritt Callot an solche Aufgaben heran, so hat er
das künstlerische Feingefühl, seine Figuren im aller-
kleinsten Massstab zu halten. Er weiss, dass dann
ein kleines, leicht hingeworfenes Häkchen richtig
andeutet, was bei grösseren Verhältnissen viele sorgsame
Linien nur ungenügend beschreiben. Und
was viel wichtiger ist, er weiss, dass diese andeutenden
, rhapsodischen Striche unsere Phantasie
zur Mitarbeit anregen, dass somit unser Interesse
an der Leistung stets wach bleibt. Hätte er einen
grösseren Massstab gewählt, bei dem er nicht umhin
konnte, jede einzelne Figur sorgfältiger durchzuführen
, so müsste unsere Teilnahme erschlaffen,
und die zahllos nebeneinander vorgetragenen Einzelheiten
würden uns schliesslich langweilen.

Callots grösste, spezifisch künstlerische Tat besteht
darin, dass er der Radierung zum erstenmal
ein eigenes Gepräge gegenüber dem Grabstichelkupferstich
verlieh, indem er dieKunstdes„Deckens"
ausbaute. Bis dahin war - wie immer, Ausnahmen
nicht mitgerechnet - die Radierung ein mehr oder
minder gelungener Ersatz für den Kupferstich. Von
Callot ab ist sie eine selbständige Kunst. Die ganz
einfach gehandhabte Radierung kennt keine Abstufung
in der Stärke der einzelnen Linien. Durch
das „Decken" kann man die Linien, die den fernen
Horizont angeben, zart und duftig lassen, die Linien
des Mittelgrundes breiter, die des Vordergrundes
schliesslich ganz kräftig und voll gestalten. Je nach
dem grösseren Können des Künstlers wird diese
Abstufung eine reichere sein. Ihr Ziel ist es, eine
wunderbare Luftperspektive in das Werk zu bannen,
und das erreicht diese Kunst des „Deckens" weit
vollkommener als irgend eine andere Art des Bilddrucks
, ja eigentlich noch vollkommener als die
Malerei. Callot, der diese Kunst zuerst wirklich
entfaltete, ist zugleich einer ihrer allergrössten Meister
geblieben, neben dem sich nur sein, möglicherweise
von ihm angeregter, Zeitgenosse Claude Gelee
und, viel später, Charles Meryon, halten können.

Zu Callots schönsten Blättern gehören die
kleine Ansicht von Paris mit dem Sklavenzug, die
Ansicht vom Louvre und die berühmte Ansicht des
Pont-Neuf (M. 712—714; vgl. Taf. 113). Auf allen, ebenso
auf dem Stechen von Nancy, verschwindet der
Hintergrund in wundervoller Luftperspektive, die die
grosse Zeichenkunst des Meisters auf das prachtvollste
unterstützt. Und wenn man Callots mancherlei
Ansprüche an Ruhm abwägt, so scheint mir eigentlich
dasjenige das wichtigste zu sein, dass er eine
Kunstübung selbständig machte, indem er einen
eigenartigen Stil für sie entwickelte.

Hans W. Singer

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