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Rembrandt.
SELBSTBEWUSSTE Nationen pflegen sich zu
schmeicheln, indem sie ihre grossen Männer als
die Quintessenz nationaler Eigenschaften und Anlagen,
als das Ideal aller in ihr gegebenen Realitäten verehren
. Sie schreiben sich ein grosses Verdienst an
dem Genius zu, der aus ihrer Mitte sich erhebt.
Sieht man danach die Holländer an, die durch eine
grosse Geschichte das zweifellose Recht erworben
haben, sich eine Nation zu nennen, und sieht man
ihren Rembrandt an, so versteht man nicht recht,
wie sie zu einander kommen. "Was an Rembrandt
wesentliche Eigenschaften sind, es sind solche, die
man an den Holländern und auch an den anderen
holländischen Künstlern nicht häufig beobachtet.
Und gilt nicht dasselbe von Shakespeare und den
Engländern?
Gleich aber möchte ich dem Verdacht vorbeugen,
als sollten Rembrandt und Shakespeare für uns
Deutsche in Anspruch genommen werden. Wir
wollen nicht unbescheiden sein. Seit Frau von Stael,
die Paris und Weimar und die Welt kannte, den
Ausspruch getan hat, den Franzosen gehöre die Erde,
den Engländern das Wasser, den Deutschen aber die
Luft, hat sich doch bei den anderen wie bei uns vieles
verändert. Das Volk der Dichter und Denker pflegt
man uns schon nicht mehr zu nennen, und wenn es
so weiter geht, mag man in fünfzig Jahren ebenso
verwundert fragen, durch welchen Zufall Goethe
und Schiller und Kant in Deutschland auf die Welt
gekommen sind, wie wir zuvor verwundert die Frage
nach dem Zusammenhang Rembrandts und Shakespeares
mit Holland und England berührt haben.
Die Wahrheit ist, dass Generationen wie Atemzüge
im Leben der Nationen sind, und dass selbst
ein Jahrhundert nicht genügt, eine Nation auszudrücken
. Es sind mächtige unterirdische Ströme da,
von denen man lange nichts rauschen hört; man hat
sie vergessen, bis sie eines Tages Wurzeln befruchten,
die man abgestorben wähnte. Rembrandt ist im
siebenzehnten Jahrhundert vereinzelt. Denkt man
an Versailles und das prächtige Amsterdamer Rathaus
(das heutige Schloss), an gerade Linie und
Regel, an Pomp und Pose und Schein, so hat Rembrandt
wirklich mit dieser reichen, sich selbst und
andere belügenden Oeffentlichkeit nichts gemein.
Von der kosmopolitischen Renaissance, die an
den Höfen und bei den Fürsten Europas jener Zeit
herrscht, hat er nichts. Er scheint in einer Zelle
zu leben, abseits von der weltlichen Welt, im Dunkel
einer eigenen Welt. Der Gedanke der Zelle führt
zurück zum Mittelalter. Der Dämmer mittelalterlicher
Kirchen, Faust und die Alchemie, die Mystik
ahnender Seelen und klopfender Herzen, dieMönchs-
zelle voll Leidenschaft und Qual und aufdämmernder
Erleuchtung — all das taucht bei dem Namen
Rembrandt auf; er ist Mittelalter, wie Shakespeare
Mittelalter ist, von einem Mittelalter, das die Meisten
nicht kennen. Wie ein einsamer Pfeiler einer geborstenen
Brücke verbindet er uns mit jener grossen
Zeit menschlicher Erhebung. Werden wir erst einmal
die Renaissance als das, was sie ist, eine Reaktion
und ein lediglich fruchtloses Sichaufbäumen vergangener
Vergangenheit, begriffen haben, dann werden
wir leidenschaftlicher die Fühlung mit den
wahren Ursprüngen unseres sittlichen und nationalen
Daseins suchen, und Rembrandt wird uns ein
immer mächtigerer und sichererer Rückhalt werden.
Woraus die Natur sonst, in karger Alltagsstimmung
, zwei Begabungen und mehr herstellt, das
hat sie in diesem wunderbaren Künstler vereinigt.
Mit dem Zauber der Poesie und reichster^ Einbildungskraft
verbindet er einen unerbittlichen, ja
nüchternen Wirklichkeitssinn.* Was das Mittelalter
zeitlich nach einander hervorgebracht hat, den Ausdruck
des Uebernatürlichen, Nichtwirklichen und
Poetischen und danach die bis zur Härte gesteigerte
Aufrichtigkeit, Körperlichkeit und Sachlichkeit des
fünfzehnten Jahrhunderts das ist bei Rembrandt
zusammen. Hierin liegt seine Modernität und seine
Herrschaft über die Zukunft. Deshalb ist es eine
wichtige Angelegenheit, Rembrandt kennen zu lehren.
Aber wie kann das geschehen?
Am ersten wohl durch die Radierungen des
Meisters. Sie verlieren in den modernen Nachbildungen
weniger als die Gemälde. Sowohl gegenständlich
, indem sie Bildnis, Landschaft, Genre und
Historie umfassen, wie technisch geben sie eine fast
allseitige Einsicht in das Wesen dieser Kunst. Wenn
sie indessen gleichzeitig mit dem frühesten bekannten
Datum der gemalten Bilder einsetzen, so bricht ihre
Reihe früher ab. Es ist wahrscheinlich, dass der
alternde Künstler weitsichtig wurde, und dass der
begrenzte Raum der Kupferplatte seinem Auge
Schwierigkeiten zu machen begann: jedenfalls geben
über die letzten zehn Jahre der künstlerischen Tätigkeit
nur die Gemälde Aufschluss. Die Gemälde
Rembrandts sieht man in allen grossen Sammlungen,
aber nicht alle Sammlungen können einen Begriff
seiner Vielseitigkeit geben. Die glänzendste Vertretung
besitzt wohl die Ermitage in St. Petersburg
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