http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_08/0012
nicht — bestätigt eher das Geburtsdatum, als dass
es die Zahl zu beseitigen geeignet wäre. Die vorzeitige
Reife wurde schon in den Kreisen, aus denen
van Mander seine Wissenschaft empfing, etwa
70 Jahre nach dem Tode des Meisters, wie ein
Mirakel bestaunt, und der Erzähler kann sich nicht
genug thun, auf die Leistungen des Wunderkindes
zu zeigen. Wie entschieden auch alle Erfahrungen
der Vorstellung widerstreben, wir müssen, wohl
oder übel, an dem Datum festhalten und die
Anormalität einfügen in das Bild, das wir von dem
Leijdener Maler schaffen.
Unter den Kupferstichen ist allem Anschein nach
das Blatt von 1508 nicht das älteste; es giebt mehrere
undatierte Darstellungen, wie etwa die Auferweckung
Lazari, die wohl noch früher entstanden sind. Freilich
nehmen wir an, dass der jugendliche Meister ausserordentlich
rasch fortschritt, dass nicht in Jahren,
sondern in Monaten, in Wochen, Mängel und Un-
vollkommenheiten getilgt wurden. Der Vater des
Lucas war angeblich Maler, ebenso wenig Kupferstecher
wie Cornelis Engelbrechtsen, der als der
zweite Lehrer genannt wird. Von niederländischen
Kupferstichen aus der Zeit um 1500 eine Brücke
zu schlagen zu den hoch entwickelten Jugendarbeiten
des Leijdener Meisters, ist nicht gelungen und wird
schwerlich je gelingen. Es ist mehr als ein Mangel
in unserer Kenntnis, was das Auftreten des Lucas
van Leijden so unvorbereitet und so erstaunlich erscheinen
lässt, — er war eine geniale Begabung,
ein Genie zum mindesten im Technischen.
Wir gehen daran, die Kupferstiche in der
Reihenfolge ihrer Entstehung durchzusehen, freuen
uns im voraus der dokumentarisch festgehaltenen
Entwickelungsgeschichte und vertrauen, dass die
Individualität des grossen Meisters sich rein am
Ende aus allen Wandlungen offenbaren werde.
Das Schauspiel einer harmonischen Entwickelung
wird uns nicht zu Teil. Der Weg geht kreuz und
quer, bald nach dieser, bald nach jener Höhe und
endlich in die Tiefe. Nicht die individuelle Schöpferkraft
scheint sicher zu leiten, sondern Vorbilder in
der Natur und in der fremden Kunst scheinen gleich
Irrlichtern den Zickzackweg des gehetzten Zeichners
zu bestimmen.
Lucas fand keinen festen Halt an der Tradition.
Zu Anfang des 16. Jahrhunderts schwankte die
Ueberlieferung, die übrigens in Holland wohl nie
so inhaltsreich und bindend wie in den südlichen
Niederlanden gewesen war. In der gefährlichen
Stilkrisis kam ein unwählerischer Naturalismus
obenauf. Aus der Unerschöpflichkeit der Natur
bereicherte der holländische Zeichner seine Kunst,
hastig, mit verblüffendem Erfolg, aber ohne Folgerichtigkeit
, mehr sammelnd als bauend.
Der Ehrgeiz dieses Kupferstechers, seine Begierde,
dem Grabstichel neue Gebiete zu unterwerfen, scheint
unersättlich. Immer andere Aufgaben treten heran,
werden gelöst und scheinen damit abgethan. Da
die Geschicklichkeit des Meisters von gefährlicher
Grenzenlosigkeit ist, stellen sich Bemühung, Gelingen
und Ueberdruss fast gleichzeitig ein.
In dem Blatte von 1508 ist die Scene aus
Mohammeds Leben mit unbefangener Drastik in den
Gebärden, Stellungen und Bewegungen erzählt. Der
Prophet ist nach dem Trunk im Sitzen eingeschlummert
, der ermordete Mönch liegt auf der
Erde, in starker Verkürzung gesehen, der Soldat
schleicht sich leise zwischen den Toten und den
Schlafenden, sein blutiges Schwert mit dem reinen
des Propheten tauschend. Die Figuren sind glücklich
zu einer Gruppe vereinigt. Dahinter eine tiefe
Hügellandschaft, deren Luftperspektive mit den
spröden Mitteln des Grabstichels ganz erstaunlich
gut ausgedrückt ist. Es fehlt nicht an anderen
Blättern, die an den angedeuteten Errungenschaften
Teil haben; es giebt nicht wenige Darstellungen aus
der ersten Zeit des Meisters, die mit Ausnützung
der Raumtiefe auf stark bewegtem Terrain kühn
komponiert, verwegene Verkürzungen, geschlossene
Gruppenbildung, reiche Landschaftsmotive und eine
vorgeschrittene Beobachtung der Lichtumstände aufweisen
. Der in der Hand des Meisters leicht und
schmiegsam gleitende Grabstichel wird befähigt, ungemein
weiche und zarte Effekte hervorzubringen.
Trotz dem vollkommenen Erfolge der ersten Bemühungen
hat Lucas um 1510 Kupferstiche ausgeführt
, in denen auf die Künste der perspektivischen
Verkürzung, Ueberschneidung, Gruppierung und
Raumvertiefung anscheinend verzichtet wird, in
denen die Figuren merkwürdig gerade und steir
nebeneinander stehen. Der landschaftliche Ausblick
wird verstellt und verbaut. Für den Verlust bietet
keinen ausreichenden Ersatz die entschiedene Bestrebung
, reiche architektonische Bildungen als Ab-
schluss einzuführen. 1510 schon, mit der berühmten
umfangreichen Ecce-homo-Darstellung, feiert Lucas
seinen höchsten Triumph in der Wiedergabe des
Architektonischen. Der weite Marktplatz von höchst
verwickelter Gestalt, umgeben von verschiedenartigen
Baulichkeiten, ist in einwandfreier Perspektive, mit
leuchtender Klarheit dargestellt. Wieder scheint das
Neue der Aufgabe die Fähigkeiten des Zeichners
beflügelt zu haben. Christus wird dem Volke gezeigt
auf dem Vorplatz des Tribunals, im Mittelgrunde
undeutlich sichtbar. Den breiten Raum vorn
füllt die gestikulierende Masse. Das Volk ist hier,
nicht unziemlich, als der Träger der Handlung zur
Hauptsache gemacht. Doch folgte Lucas, wie
wir sonst beobachten, bei seiner demokratischen
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_08/0012