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Aber dieses Werk ist nicht nur das letzte in dieser
Reihe, sondern es zeigt auch die völlige Befreiung
des Künstlers. Das Basrelief der „Flora mit ihren
Kindern" steht ebenbürtig neben seinen beiden berühmten
Hauptwerken, dem „Tanz" vor der Oper
und den „vier Weltteilen".
Carpeaux hat nicht nur in der rhythmischen
Bewegung, sondern auch in der malerischen Auffassung
der Plastik das Aeusserste erreicht. Um
dies recht zu erkennen, muss man seine ersten
Skizzen betrachten. Wie die Impressionisten unter
den Malern geht er völlig von den Massen aus.
Nicht die Linien, sondern die Verhältnisse von Relief
und Vertiefung, von Licht und Schatten bestimmen
seine Kompositionen. Diese ersten Skizzen
sind im Grunde weiter nichts als Durcheinander von
Thonklecksen, aus denen nur das geübte Auge das
künftige Werk zu entziffern vermag. Aber nur bei
einer solchen Art Arbeit konnte diese eminent
dekorative Wirkung, dieser Eindruck der vollsten
Lebenswahrheit erzeugt werden. Diese Flora sitzt
nicht nur unter ihren Kindern, sondern spielt wirklich
mit ihnen, diese nackten Mädchen posieren nicht
vor dem Zuschauer, sondern wirbeln in höchster
Ausgelassenheit um den jugendlichen Gott des Tanzes
herum, diese vier Frauen drehen wirklich die Weltkugel
. Man schliesse die Augen, wenn man eine
dieser Gruppen angesehen hat, und man wird erstaunt
sein, die Figuren noch auf demselben Flecke
zu finden, wenn man die Augen wieder öffnet.
Und dazu kommt nun diese überströmende, kraftvolle
und ewig gesunde Sinnlichkeit bei Carpeaux,
diese allen Dunkelmännern verhasste Freude an
üppiger, prächtiger Nacktheit. Es war kein Wunder,
dass die Tanzgruppe vor der Oper nicht nur im
bildlichen Sinne Ströme von Tinte fiiessen Hess,
sondern dass ein verführter Thor sie wirklich mit
einer Tintenflasche fast ruinierte. Man hat bei
diesen von schelmischen Grübchen belebten lachenden
Gesichtern, bei diesen kräftigen, vollen und doch
graziösen Gliedmassen, bei dieser Epidermis, die
man betasten möchte, um das warme Blut darunter
pulsieren zu fühlen, an Clodion gedacht. Aber
dessen entzückende Figuren erinnern doch immer
etwas an die gepuderten Schönheiten des 18. Jahrhunderts
; Garpeauxs Mädchen sind urwüchsiger,
unbändiger, gesunder. Eher wird man an Rubens
erinnert. Als keusch kann man sie freilich nicht
in Anspruch nehmen, aber wo ist bei Rubens die
Keuschheit zu finden? Wer denkt überhaupt an so
etwas, wenn er dieses wie von der Natur geschaffene
Meisterwerk vor sich hat? Bakchische Lebensfreude,
Selbst- und Weltvergessenheit ist darin; wer etwas
anderes finden will, wird vergeblich suchen. Wer
aber meint, dass die Gruppe wohl wundervoll sei,
aber nicht vor die Oper passe, der lese das, was
der Architekt Garnier selbst darüber gesagt hat.
Die Stelle, an der er steht, und die Kämpfe, die
um ihn ausgefochten worden sind, haben den „Tanz"
zu dem bekanntesten und volkstümlichsten Werke
des Künstlers gemacht. Die Gruppe vom Brunnen
des Observatoire ist aber mindestens ebenso bedeutend
. Die vier Weltteile, eine graziöse Europäerin
, eine gedrungene Chinesin mit langem Zopf, eine
dicklippige, kraushaarige Negerin und eine Indianerin
, drehen um eine ideale Axe die mit dem Zeichen
des Tierkreises geschmückte durchbrochene Himmelskugel
, in deren Mitte wir den Erdball erblicken.
Jede der vier Figuren ist in Ausdruck, Modellierung,
Haltung und Bewegung ein Meisterwerk, das Bewundernswerteste
aber ist, wie jede völlig individuell
und von der anderen gänzlich verschieden ist und
doch eine vollkommene Harmonie entsteht. Gänzliche
Freiheit im einzelnen und volle Monumentalität
sind selten so gepaart gewesen.
Carpeaux ist aber auch einer der grössten Porträtbildhauer
des Jahrhunderts. In dem neuen Saale des
Louvre hat man jetzt neben den Büsten in Marmor
und Bronze eine grosse Anzahl von Originalmodellen
aufgestellt. Es mag sein, dass Carpeaux in der
Schärfe der Charakteristik nicht ganz an Houdons
Voltaire oder an Rodins Dalou und Laurens heranreicht
. Aber sein Garnier, dieser schmale, knochige,
ganz von innerem Feuer verzehrte Künstlerkopf,
sein Gerome, sein Bruno Cherier kommen ihnen so
unendlich nahe, dass solche Rangabstufungen fast
vermessen erscheinen. Und dann ist Carpeaux doch
wohl noch vielseitiger als Rodin. Wer weiss, ob
diesem das liebenswürdige, geistreiche und feine
Gesicht eines Alexander Dumas so gelegen hätte!
Und daneben welch' köstliche Frauenbildnisse! Er
hat fast ausschliesslich Damen der Gesellschaft im
ausgeschnittenen, mit Blumen geschmückten Ballkleide
porträtiert. Diesen als Plebejer geborenen
Künstler erfüllte ein unwiderstehlicher Durst nach
höfischem Leben, Adel, Luxus und Pracht, ein Durst,
der sich manchmal auf eine recht parvenumässige
Art äusserte — seine grösste und vielleicht seine
einzige Schwäche. Bald sind seine Frauen gretchen-
haft anmutig, bald sind es heitere, lebenssichere
Weltdamen, bald stolze, ihrer Reize bewusste Schönheiten
, immer aber haben sie etwas Bestrickendes.
Die ganze heitere Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs
scheint in ihnen wieder aufzuleben. Carpeaux
war nicht nur ein Darsteller vollsaftigsten Lebens,
sondern auch ein delikater Charmeur. Mag man
andere Bildhauer kritisch noch höherstellen als ihn,
kaum einen wird man so lieben.
Walther Gensei.
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