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Tilmann Riemenschneider. Der hl. Blutaltar.
Rothenburg. Jacobskirche.
Tilmann Riemenschneider.
(1468—1531.)
WAS grosse künstlerische Auffassung und
schwungvolle Formengebung anlangt, werden
die Ital iener der Renaissance vor den Deutschen unstreitig
den Vorrang behalten. Und dennoch gebührt
den altdeutschen Meistern trotz mancher formalen
Eckigkeit nach einer Seite hin der Vorzug: sie haben
menschliche Empfindungen und seelische Stimmungen
in zartester und herzgewinnendster Weise zum Ausdruck
gebracht, wenngleich sie gewisse Unbeholfenheit
und trübe Form nicht vermeiden konnten. Diese
Befangenheit in der Linienführung erscheint aber
zuweilen gar am Platze, und Form und Inhalt stehen
mit einander so erst recht im Einklang. Wer daher
bei deutschen Werken nur den Wohlklang der Renaissancesprache
als Massstab nimmt, wird sich der
Voreingenommenheit nicht erwehren können, wer
jedoch vom rein deutschen Empfinden aus zu urteilen
sich bemüht, wird auch aus den holzgeschnitzten
mittelalterlichen Figuren eine wahre Kunstsprache
herausempfinden.
Ein andrer Grund, weshalb es uns immer wieder
mächtig zum Quattrocento Italiens zieht, ist, dass
jenseits der Alpen, mag man die antiken Ideenkreise
noch so sehr in Anschlag bringen, dennoch aus eigner
Kraft die herrlichste aller Kunstblüten entspross und
dass aus ihr auch uns noch, die wir heute doch
ganz anders als die damaligen Italiener fühlen, ein
eigenartiger Frühlingsduft anweht. Zwar hatte auch
Deutschlands spätgotischer Geist ein Streben nach
unbedingter Naturwahrheit zur Herrschaft gelangen
lassen, allein jener Naturalismus nahm teilweise infolge
italienischer Einwirkung eine neue Färbung
und Form an, die dem deutschen Empfinden zunächst
fremd blieben.
In diese Uebergangszeit zur Renaissance und
Reformation fällt die Blüte der fränkischen Kunst.
In ihr lebten Meister, die dem Neuen zu folgen
wohl fähig waren. Dürer zeigt dies am besten.
Wie die neuen Ideen auf künstlerischem wie religiösem
Gebiete sich mit der herrschenden Tradition
verarbeiten Hessen, hat der Meister in Stich und
Gemälde dargelegt. Auch in Vischers Werkstatt
konnte rechtzeitig der sich ändernden Geschmacksrichtung
Rechnung getragen werden, und mit gutem
Erfolge. Andern Künstlern indessen — und es
waren dies leider die meisten — versagte die Kraft,
im Strome der neuen Zeit mitzuschwimmen. Stoss
und Riemenschneider, die beiden charakteristischsten
Meister jener Uebergangszeit, waren zu sehr von
spätgotischer Anschauung durchdrungen, als dass
der Versuch einer Nachgiebigkeit zu Gunsten der
Renaissance hätte gelingen können. Beiden blieb
das Verständnis für das innere Wesen der neuen
Formensprache verschlossen.
Dennoch wird gerade Tilmann Riemenschneider
eine der anziehendsten Erscheinungen in der deutschen
Plastik bleiben. Seine Gabe, in empfindsamen und
feinfühligen Personen eine überzeugende und herz-
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