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Kreuz der,~mTheorie aufnagelt — einer Theorie, in
der keine schlichte Nachahmung der Natur, keine
bildliche Erzählung und weder Portrait noch Landschaft
geduldet sind.
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Alle Theorie kann den lebendigen Offenbarungen
der schaffenden Kunst nur nachfolgen wie die aufzeichnende
Grammatik der lebendigen Sprache.
Niemand wird eine Grammatik als massgebend anerkennen
wollen, die neun Zehntel einer Sprache,
wie sie in den Schriften der grössten Schriftsteller
vorliegt und tagtäglich gesprochen wird, als widersinnig
verwirft und verbietet.
Der Anti-Laokoon, den Gottfried Keller schreiben
wollte, ist leider ungeschrieben geblieben. Aber der
plumpe Missbrauch der Lessingschen Schrift, aus
der kleinliche Kritiker sich ihren Zollstock zurecht
schneiden, um grosse Künstler, deren Flug sie nicht
verstehen, sich näher zu bringen und zu verhöhnen,
thut deshalb Lessing selbst nicht weniger Unrecht.
Es sind bereits siebzig Jahre her, seit Rumohr seine
unwiderlegbaren Einwendungen gegen Lessings Darlegungen
und gegen die Engigkeit seiner Vorstellungen
erhoben hat, die sich nur aus seiner lückenhaften
Kenntnis der Werke bildender Kunst erklären
lasse. Lessing selbst, wenn er heute lebte, in der
Fülle der Anschauung alter und neuer Kunst, die
uns jetzt umgiebt, würde heiteren Sinnes sein veraltetes
Gesetzbuch bei Seite werfen; er würde nicht
für die Knebelung des künstlerischen Schaffens
kämpfen, sondern für dessen Freiheit.
R. Kekule von Stradonitz.
Lorenzo Lotto.
1480—1556
In jeder Schule begegnen wir Künstlern, welche
zwar den Zusammenhang mit der Stätte, an der
sie ihre künstlerische Ausbildung erhielten, nicht verleugnen
, dabei aber von Natur so eigenartig ausgestattet
sind, dass sie eine vollständig unabhängige
Stellung ausserhalb der historischen Entwickelung
ihrer heimatlichen Kunst einnehmen. In der Geschichte
der venezianischen Malerschule muss man
für Lorenzo Lotto einen solchen Platz beanspruchen;
sind die Bellini, Giorgione, Tizian, Paolo Veronese
und Tintoretto die notwendigen Faktoren, deren
Summe die Malerei der Lagunenstadt bedeutet, so
könnte man Lotto sich aus der Geschichte derselben
fortdenken, ohne dass eine Lücke entstände. Mit ihm
aber würde Venedig um einen seiner interessantesten
und originellsten Künstler ärmer werden, der zugleich
unserem modernen Empfinden besonders nahe steht.
Wenn Lotto in weiteren Kreisen kaum anders,
denn als Maler von Portraits bekannt ist, so wird
dies dadurch zur Genüge erklärt, dass noch heute
die meisten seiner Kirchenbilder sich an demselben
Platz befinden, für welchen sie gemalt
sind, in kleineren Ortschaften, wohin nicht allzu-
viele Italienwanderer sich hinwenden, in Bergamo
und seiner Umgebung, sowie in den Marken: in
Ancona, Loretto, Jesi, Recanati.
Würden wir gezwungen sein, den Menschen
Lotto aus seinen Werken zu rekonstruieren, so gelangten
wir ohne Zweifel zu einem Resultat, dessen
Richtigkeit zahlreiche eigenhändige Aufzeichnungen
erweisen. Wir wissen genau: Lotto war nervös,
wohl auch häufig kränklich, ein unruhiger Geist, den
es nicht lange an einem Platz duldete und den wir
bald in Venedig oder Bergamo, dann wieder, in Treviso
und Loretto seinen Wohnsitz nehmen sehen, stets
entschlossen für immer zu bleiben, stets nach wenigen
Jahren seinen Wohnort wechselnd. Eine starke
Tendenz zu Frömmelei macht sich in seinen späteren
Jahren bemerkbar. Daneben zeugt peinliche Führung
seiner Bücher sowie die Exaktheit, mit der er seine
Bilder zeichnet und datiert, für einen Pedanten.
Als Künstler ist er, offenbar infolge seines
Temperaments, überaus ungleichmässig. Wenn einige
seiner Altarwerke — ich möchte die thronende Maria
in San Bernardino in Bergamo oder die Glorie
des S. Nikolaus von Bari in der Carminekirche zu
Venedig willkürlich herausgreifen — sich den aller-
vorzüglichsten Schöpfungen italienischer Malerei an
die Seite stellen, so sind andere Werke derart
manieriert, dass man sich mit Missbehagen von ihnen
abwendet. Dabei verstand er es, Stoffen, welche
unzählige Male vor ihm behandelt waren, neue und
überraschend originelle Seiten abzugewinnen: so
wenn er auf der „Verkündigung" in Recanati das
Staunen der Maria schildert, welche halb in Furcht,
halb in Verwunderung vorn in die Ecke gedrückt
die Hände erhebt, während eine Katze voll Entsetzen
über den Engel, der hereingestürmt ist, spornstreichs
davonläuft. Als Kolorist steht er durch die
seltsamen Effekte, die er stets hervorzubringen weiss,
ganz einzig da. So liebt er es, einen Teil des Kopfes
einer Figur in feinen kühlen Halbschatten zu legen,
die andere Hälfte durch helles Licht scharf zu beleuchten
. Den entzückendsten Farbenreiz hat er
wohl in dem „Triumph der Keuschheit" in der
Galerie Rospigliosi erreicht: eine bekleidete Frau
verfolgt durch die Lüfte fliegend die von Amor begleitete
Venus, deren silberner — man kann nur mit
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