Augustinermuseum Freiburg i. Br., 1009/11
Das Museum: eine Anleitung zum Genuß der Werke bildender Kunst
Berlin, 11. Band.[1911]
Seite: 17
(PDF, 164 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/das_museum_11/0271
Was ist Kunstentwickelung?

DIE Idee, dass in der Geschichte der bildenden
Kunst eine organische Weiterentwickelung
zu sehen sei, ist so alt wie die Geschichte der
bildenden Kunst selber. Sie schleppt sich von einem
Handbuch zum anderen, aber kaum findet man auf
dem Gebiete der Plastik und Malerei einen klaren
Hinweis auf das, was sich dauernd entwickelt hat,
und das, was mit dem Wechsel der Mode wieder abgestorben
ist.

Die Gesamtentwickelung der abendländischen
Kunst bietet das Bild eines beständigen Auf- und
Abwogens künstlerischer Schaffenskraft. Man kann
sich auch nicht verhehlen, dass die Höhepunkte der
späteren Kunst in der Fähigkeit, die Gemüter der
Menschen zu ergreifen, die Höhepunkte der früheren
Jahrhunderte nicht mehr übertroffen haben. Es
haben auch stets die Ideale und mit ihnen die technischen
Bestrebungen gewechselt, zum mindesten da,
wo das Principat in der Kunst von einem Volke
zum anderen übergegangen ist.

Gleichwohl ist bei den führenden Geistern das
Kunstvermögen nie auf die Stufen früherer Perioden
herabgesunken, auch bei den kleineren Talenten
nicht. Es giebt für die bildende Kunst einen eisernen
Bestand, der von den Karolinger-Zeiten bis auf das
Rokoko stets vermehrt und nie verschleudert wurde,
der von Cornelius und den Seinen zum kleinen
Teil bloss verschmäht, in unseren Tagen weitere
Vermehrung fand.

Beständig vermehrt hat sich die Schärfe der
Beobachtung für die Regungen der Seele und die
Fähigkeit, diese auszudrücken. Die gotischen Köpfe
sind belebter als die romanischen, und die Renaissance
hatte wieder einen Sinn für individuelles Leben, der
den früheren Zeiten völlig abging; aber auch das
17. Jahrhundert liebte es, Gemütsregungen darzustellen
, an denen die grossen Meister des 16. achtlos
vorübergegangen, und mir will es scheinen, als ob
selbst die Kunst unserer Zeit für Vibrationen des
Seelenlebens, die früher unbekannt waren, ein Gefühl
und selbst einen Ausdruck gefunden habe, gleichwie
die zeitgenössische Litteratur in der Zergliederung der
menschlichen Stimmungen über die ältere Litteratur
hinausgegangen ist.

Das Streben nach Leben im beharrenden Kunstwerk
ist der Malerei und der Plastik aller Zeiten
und Völker gemein. Aller Malerei ist ferner gemeinsam
das Bestreben, auf der ebenen Fläche
den Schein von Körper und Raum hervorzurufen.

In der That vermehren sich nun die Mittel zur Raumillusion
trotz aller Schwankungen des Geschmacks
von Jahrhundert zu Jahrhundert und alle grossen
Meister des Nordens wie des Südens von Giotto
bis auf unsere Tage sind bahnbrechende Entdecker
von neuen Mitteln gewesen, die diesem einen Ziele
dienen, und alle Schriften über Kunst, die von
Künstlern selbst verfasst sind, handeln von solchen
Mitteln. Dies ist für uns hier entscheidend.

Natürlich kann schon eine ganz primitive Konturzeichnung
, wie man sie auf den Geräten der Urzeit
findet, für uns ein Anreiz sein, uns etwa eine
Landschaft mit Renntieren vorzustellen. Es gehörte
aber eine lange Entwicklung der Menschheit und
das Ringen vieler Generationen hochbegabter Künstler
dazu, bis die bildende Kunst auch nur so weit gelangt
war, die einfachsten Gegenstände plastisch
darzustellen, so wie dies heute der Schüler in den
Gipsklassen der Zeichnungsschulen lernt. Um den
Eindruck der räumlichen Vertiefung herbeizuführen,
hat der Künstler die Dinge so darzustellen, wie sie
uns als einzelne Teile im Gesamtbilde ihrer Umgebung
, in einer zufälligen Beleuchtung, in einer
zufälligen Entfernung erscheinen, und nicht so, wie
sie schattenlos, alles Zufälligen entkleidet, in unserer
Vorstellung haften, er hat also die Körper zu
schattieren, mit Licht und Schatten zu modellieren,
er hat, je ferner ein Gegenstand zu denken ist, ihn
desto kleiner und auch im allgemeinen blässer und
blauer darzustellen. Dies alles ist durchaus nicht
das Selbstverständliche, wie man heute meinen
könnte. Die älteste Kunst begnügt sich mit Konturen
und Farben; die Aegypter so gut wie die Künstler
der alten deutschen Kaiserzeit stellen die Menschen
je nach ihrem Rangverhältnis gross oder klein dar.
Selbst der gewaltige Giotto hat die Schatten noch
nicht ganz so gegeben, wie sie bei einer bestimmten
Beleuchtung aussehen können, und es scheint, dass
erst das Bedürfnis, Landschaften und weite Räume
zu sehen, zu der natürlichen perspektivischen Darstellung
geführt hat. Ein Mittel, den Eindruck der
Tiefe hervorzurufen, ist ferner, mehrere Gegenstände
im Bilde hintereinander darzustellen, so dass die
vorderen die hinteren zum Teil verdecken, „überschneiden
". Auch dies ist nicht das Ursprüngliche.
Der Indianer zeichnet bei einer Herde Kühe immer
das eine Stück Vieh über dem anderen.

Erst nach Phidias und dann wieder erst im
15. Jahrhundert begann die Malerei mit der räum-


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