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Cantilene Francesco Paolo Tostis inspiriert scheint,
den „Liebesfrühling" (Primavera cfamore), auf die
Ausstellung nach Paris. In der That herrschte in
jener Epoche eine merkwürdige Tendenz zu einer,
ich möchte sagen dialektalen Keckheit des künstlerischen
Ausdrucks vor. Costantino Barbella, ein
Landsmann und Freund Michettis, erwarb sich mit
einem Schlage einen Namen mit den kleinen Bauern-
figürchen, die er modellierte; die Dramen in schweren
Versen von Gossa und Giacosas wurden durch die
venezianischen Dialektkomödien Giacinto Gallinas in
der Gunst des Publikums abgelöst. Cesare Pascarella
in Rom, Salvatore di Giacomo in Neapel begannen
ihre Laufbahn als Dialektdichter, auf der sie von
zahlreichen Genossen und Nachfolgern begleitet
wurden und werden.
Auf der Ausstellung in Turin im Jahre 1880,
als Werke Morellis wie die „Besessenen" (Gli ossessi)
und die „Vexilla regis" als über jeder Preisbewerbung
stehend geschätzt wurden, erregte das ergreifendste
Gemälde, das sein Schüler Michetti je gemalt hat, die
„Kinderbeerdigung" (I morticelli), ebenfalls ländlichen
Charakters, neben seinen zwei anderen Bildern derselben
Richtung, dem „Palmsonntag" (La domenica
delle palme) und den „Fischerinnen" (Le pescatrici)
die grösste Begeisterung.
Im Jahre 1881 erschienen in Mailand die
Temperastudien, welche Scenen aus dem bewegten
Leben in Neapel, in Paris und in Turin darstellten,
und das Bild der künstlerischen Persönlichkeit des
Abruzzesen vervollständigten. Der Landschaftsmalerei
oder vielmehr den Landschaftsstudien wandte
sich Michetti zwei Jahre später in dem Beitrag, den
er für die Ausstellung in Venedig lieferte, wieder
zu. Indessen hatte ihm sein „Gelübde" in Rom den
Namen des ersten unter den jungen Malern verschafft
. Von diesem Augenblicke nun aber schien
sich der Künstler in unfruchtbare Experimente zu
verlieren und erst wieder auf der ersten internationalen
Kunstaussellung in Venedig im Jahre 1895
trat er mit einem grossen Werke hervor, mit dem
er beweisen konnte, dass er nicht auf den Lorbeeren
ausgeruht hatte. Sein Gemälde „Die Tochter des
Jorio" (La flglia di Jorio) erhielt hier den grossen
Preis für Malerei. Noch einmal glänzte hier Francesco
Paolo Michetti als Darsteller ländlicher Sitten,
aber das psychologische Element, das seinen Werken
nie gefehlt hatte, das im „Gelübde" sogar eine fast
tragische Bedeutsamkeit angenommen hatte, gewinnt
in diesem neuen Werke in entschiedenster Weise
das Uebergewicht. „Die Tochter des Jorio" ist ein
Gemälde, das man erzählen könnte wie ein Kapitel
eines Romans. So ausgedrückt, scheint diese Eigenschaft
des Bildes auf den ersten Blick allerdings
durchaus keine Besonderheit zu bezeichnen, sie wird
aber als eine ganz eigentümliche erscheinen, wenn
man bedenkt, dass die Darstellung nicht als Illustration
einer Episode aus irgend einem Buche gedacht
ist, sondern in durchaus selbständiger Erfindung
eine Legende oder, wenn man will, eine dramatische
Situation schafft.
Von den zahlreichen anderen Arbeiten Michettis,
farbigen oder monochromen Pastellstudien, Temperaskizzen
— seit vielen Jahren vernachlässigt, ja missachtet
er sogar die Oeltechnik —, erwähne ich nur
ein Gemälde, und zwar von sehr bescheidenem Umfange
, eine Phantasie, anders wüsste ich es nicht
zu bezeichnen, welches die Hofdamen der Königin
von Italien der Prinzessin Elena von Montenegro
bei Gelegenheit ihrer Hochzeit mit dem Prinzen von
Neapel überreicht haben. Ich erwähne auch einige
Bildnisse, z. B. die des Königs und der Königin von
Italien, die kurze Zeit im Saale der Botschafter im
Quirinal aufgestellt waren.
Durch den grossen Erfolg seines Temperagemäldes
„Die Tochter des Jorio" veranlasst,
siedelte Michetti, der kurz nach Beendigung
seiner Studien in Neapel sich nach Francavilla
am adriatischen Meere, dicht an der Mündung
des Pescara, zurückgezogen hatte, nach Rom
über, wo er im Hause des Fürsten Borghese
einen riesigen Saal gefunden hatte, den er sich zum
Atelier einrichten wollte. Damals besuchte ich ihn
in seinem neuen Heim; er war entzückt und sprach
mit Begeisterung von seinem Riesenatelier, neben
dem er noch zwei Werkstätten, eine für Mechanik
— „hier bin ich Zimmermann", sagte er — und
die andere für Malerei, besass; in dem grossen Saale,
der noch ganz leer, kalt und unwohnlich war,
dachte er die Arbeit erst zu beginnen, wenn ihm ein
Kolossalbild im Geiste sich gestaltet haben würde.
In den zwei Jahren seines Aufenthaltes in Rom
hat Michetti aber nichts hervorgebracht. Seiner
ländlichen, durch die lange Gewohnheit in dieser
Vorliebe noch bestärkten Natur gelang es nicht,
sich in dem eisigen Atelier in der Grossstadt, dem
etwas Ceremonielles anhaftete, zu konzentrieren, so
dass er schliesslich, der Unthätigkeit überdrüssig,
Rom verliess und nach seinem Francavilla zurückkehrte
. Wir werden nun sehen, welches Werk
sein schöpferischer Genius hervorbringen wird, jetzt
da er wieder in die seinem Schaffen so günstige
Einsiedelei zwischen den vertrauten Feldern und im
Anblicke seiner Adria zurückgekehrt ist.
Seit einiger Zeit geniesst die ehrliche und grossartige
, fast möchte ich sagen elementare Kunst
Michettis nicht mehr die Gunst des Publikums wie
früher. In der That hat sie nichts von den neuen,
nervös affektierten Bestrebungen in sich aufgenommen.
Obwohl er einer jener Künstler ist, die, immer un-
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