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überall auf der Welt wachsen Bäume
; aber nicht immer hängt an einem
Baume eine elegante Dame.
Hier hing eine ! Und wie es oft sonderbar
auf dieser Welt zugeht, schritt
in dieser Minute ein Herr vorüber, sah
die Dame baumeln, blieb stehen, lüftete
seinen Hut und fragte :
« Leben Sie noch ? »
« Ja; Aber — »
Da schnitt der Herr die Dame ab und
legte sie neben sich ins Gras. Die Dame
schüttelte empört das Gesicht.
«Hätten Sie es lieber bleiben lassen
!» sagte sie.
« Ich bitte Sie ! »
«Keine Ausflüchte ! Wenn ein
Mensch sich aufhängt, hat er seine
Gründe ! »
Der Herr lächelt verbindlich.
« Verzeihen Sie mir meine Voreiligkeit
vielmals », sagte er, da es jedoch
einmal geschehen ist, wollen wir sehen
, wie Ihnen zu helfen ist. Sie sind
jung, Sie sind hübsch, das Leben liegt
vor Ihnen; alles kann noch gut werden.
Fassen Sie Vertrauen zu sich selbst!
Man soll nicht gleich die Flinte ins
Korn werfen oder sich den Strick um
den Hals legen. Haben Sie vielleicht
Liebeskummer ? »
« Ach, die Männer ! »
Es kam so spöttisch und verächtlich,
daß Liebeskummer bestimmt nicht der
Grund war. Es klang, als wüßte Sie vor
lauter Überheblichkeit noch nicht, was
ein Mann ist. Trotzdem wiederholte der
Lebensretter :
« Also keinen Liebeskummer ? »
« Nein ! »
« Vielleicht Geldsorgen ? »
« Nein! »
« Eine unheilbare Krankheit ? »
« Sehe ich etwa so aus ? »
«Ja, warum haben Sie sich dann
überhaupt aufgehängt ? »
Die elegante Dame richtete sich auf:
« Ich bin Sängerin », sagte sie, « ohne
mich rühmen zu wollen, habe ich das
schönste Organ der Welt. Ich singe
ebenso leicht das hohe C wie das tiefe
B. Meine Aussprache ist ausgezeichnet,
mein Ton überaus angenehm; ich habe
Herz in der Stimme. Aber trotz meinem
großen Können, trotz meinem prächtigen
Organ, trotz meiner fabelhaften
Stimme engagiert mich kein Mensch.
Man läßt mich einfach nicht singen,
man will mich nicht aufkommen lassen.
Sie wissen ja, wie das auf der Welt ist:
wahre Talente macht man mundtot. Die
Prominenten haben Angst vor mir, deswegen
intregieren sie gegen mich; nur
deswegen, sonst wäre ich längst---»
Der Herr lächelte :
« Lobsingen Sie Ihrem Schöpfer, meine
Dame; ein gütiges Geschick hat
mich am Baume Ihres Erhängens vorbeigeführt
! Zufälligerweise bin ich
Operndirektor, zufälligerweise suche
ich gerade eine erste Sängerin. Ich bin
auf dem Wege zur Stadt, um eine Sängerin
zu engagieren. — Sie braucht
nicht einmal besonders gut zu sein; nur
ein wenig Stimme müßte sie haben.
Singen Sie mir bitte etwas vor, und
ich unterschreibe sofort Ihren Vertrag.
Da hub die Sängerin zu singen an.
Sie sang laut und sie sang lange. Als
sie ihr Lied geendet hatte, strich sie
die Bluse glatt und fragte so von oben
her :
« Nun ? Was sagen Sie jetzt ? »
Der Herr sagte erst eine Weile
nichts; dann ging er hin, nahm den
Strick, knüpfte eine schöne Schlinge,
befestigte den Strick wieder am Baum
und sagte: «Verzeihen Sie, daß ich
Sie in Ihrer löblichen Absicht gestört
habe--»
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